Gabriele Weinfurter

"Man soll die Dinge so einfach wie möglich machen,
aber nicht einfacher."
Albert Einstein
Theoretische Erklärung
und
Nachschlagewerk
Die Theorie über die Stimmfunktion stellt die anatomischen, physiologischen, biologischen, neurologischen, akustischen und psychologischen Zusammenhänge der Funktion des menschlichen Instrumentes Stimme nach momentanen wissenschaftlichen Kenntnissen dar. Es handelt sich nicht um eine abgeschlossene Lehrmeinung, sondern um einen Erkenntnisprozess, der jetzt und in Zukunft ständig erneuert und erweitert wird.
Zitat Rabine-Institut


Gesang als elementare Möglichkeit zur Äußerung von Innerlichem, als Quelle von Freude und Gesundheit, als kulturelle, rituelle und spirituelle menschliche Ausdrucksform ist elementarer Bestandteil der menschlichen Kultur. Vom Ursprung her ist er verwandt mit dem „Jauchzen“, einer Lautäußerung, die Säuglinge schon in den ersten Lebensmonaten als Ausdruck höchsten Vergnügens von sich geben. Bemerkenswert ist, dass sie einatmend jauchzen, aber ausatmend weinen. In der Bedeutung, Glück und Freude zum Ausdruck zu bringen, wird Jauchzen und Singen gern in einem Atemzug genannt. Die Art zu singen, wie wir Menschen es tun, ist etwas, was unsere Spezies, den homo sapiens sapiens, von allen anderen unterscheidet: Durch unseren speziellen Körperbau sind wir als Einzige in der Lage, diese besondere Lautäußerung hervorzubringen. Singen in dieser Form hat Eugen Rabine als „Funktionalen Gesang“ bezeichnet und als komplexesten zusammengesetzten Reflex des Körpers beschrieben. Es ist in allen Menschen von Geburt an angelegt. Jeder kann ihn für das eigene Wohlbefinden nutzen.
Die Aufgabe, singen zu lernen, besteht also nicht darin, etwas gänzlich Neues, dem natürlichen Verhalten Widersprechendes oder Aufgesetztes zu erlernen. Es geht vielmehr darum, etwas bereits Vorhandenes von Gewohnheiten und Schutzmechanismen zu befreien, um die daran beteiligten Parameter für eine „Luxusfunktion“ zu optimieren. So wird das, was als Anlage schon von Natur aus da ist, durch die Selbstheilungskraft des Körpers zur Entfaltung aus sich heraus gebracht. Dann kann die emotionale Funktion dieses Verhaltens in vollem Maß erfüllt werden: Singen kann die komplexe Psyche des Menschen durch die Ausschüttung von „Glückshormonen“, etwa Endorphinen, Serotonin und Dopamin, von innen heraus regulieren. Zahlreiche Studien belegen seine euphorisierende Wirkung. Mehr noch: Durch das immer feinere Zusammenspiel der Atmung mit der Erweiterung und Tonisierung des Körpers und die regelmäßigen Vibrationen beim Singen wird Verbundenheit von Körper und Psyche im Augenblick bewusst erfahrbar, wie es in passiverer Form ja auch Ziel jeder Meditationstechnik ist. So wird die Fähigkeit zu singen zu einer jederzeit verfügbaren Oase des Wohlgefühls, einem Rückzugsort in die innere Harmonie, unabhängig davon, welche äußeren Umstände und Einflüsse gerade herrschen.
Funktionales Stimmtraining eignet sich für alle Stilrichtungen, und ebenso für Menschen in Sprechberufen. Es wird auch in den Bereichen der Logopädie, Phoniatrie, Musiktherapie, Psychotherapie und zur Entwicklung neuer therapeutischer Richtungen angewendet.
Es ist aber nicht möglich, mithilfe einer Beschreibung der funktionalen Abläufe bei der Phonation Singen zu lernen, genauso wenig, wie das Wissen über die muskulären und neurologischen Zusammenhänge im Körper eine physiotherapeutische Behandlung ersetzen kann. Das theoretische Wissen unterstützt aber die bildliche Vorstellung und somit die Verknüpfung und die differenzierte Wahrnehmung. Eugen Rabine sagt dazu: „Wissen ohne Praxis, das heißt, ohne es zu üben oder anders praktisch anzuwenden, hat wenig Bedeutung.“ (Renate Rabine, „Die theoretischen Werke von Eugen Rabine – vol. 1“, S. 6)



Beim Saugreflex wird durch die sich vergrößernde Kieferöffnung bei aktivem Lippenring der Rachenraum immer mehr horizontal und vertikal erweitert, der Kehlkopf immer weiter abgesenkt und so der Sog erhöht. Der Vokaltrakt setzt der einströmenden Atemluft geringstmöglichen Widerstand entgegen, so dass die Einatmung optimal schnell und effektiv erfolgen kann. Dadurch wird die die Einatmungsmuskulatur bestmöglich trainiert und fähig, die Muskelspannung auch während der Ausatmung dominant aufrechtzuerhalten.
VORWORT
Diese Seite ist gedacht zur Information für Menschen, die mit der Stimme arbeiten, ob im Sänger- und Sprecherberuf oder auf pädagogischer Ebene in Schule und Chor. Für alle, denen ein gesunder Umgang mit den Ressourcen und Möglichkeiten des menschlichen Körpers zu Selbstausdruck und Selbstheilung ein Anliegen ist, soll es als Orientierungshilfe dienen. Ein wichtiger Aspekt dabei ist auch, zu beleuchten, welche Ansätze unterstützend wirken für das, was von Natur aus im Organismus angelegt ist, und welche dem eher zuwiderlaufen.
Die Seite ist aufgebaut als Nachschlagewerk. So kann man sich über bestimmte Themenbereiche informieren, die gerade von Interesse sind.
Die Fähigkeit zu singen ist nach der funktionalen Definition ein reflektorisches Geschehen, und als Anlage angeboren. Die ausdehnende Einatmungsmuskulatur dosiert dabei während der Ausatmung den Atemstrom. Das ist ein nicht ins Tagesbewusstsein dringender Vorgang, wie auch alle anderen autonom ablaufenden Körperfunktionen. Darum sind die Schutzhaltungen, die ihn begleiten, ebenfalls nicht bewusst erkennbar. Um persönliche Strategien umzuprogrammieren, ist es nötig, dem System schützende Alternativen anzubieten, damit der Organismus bereit ist, die selbst installierten Schutzgewohnheiten aufzugeben. Das Buch ist aufgebaut als Nachschlagewerk. So kann man sich über bestimmte Themenbereiche informieren, ohne chronologisch das ganze Buch lesen zu müssen. Der Weg, in Form eines Lexikons über Gesang und dessen vielschichtige Teilaspekte zu informieren, wurde schon von der bekannten Sängerin und Gesangspädagogin Franziska Martienssen-Lohmann beschritten. In dieser Hinsicht ist dieses Buch ein Nachfolgewerk ihres berühmten Gesangslexikons „Der wissende Sänger“ (1956). Es versucht, den heutigen Wissensstand zu diesem Thema zu beleuchten. Eugen Rabine hat dazu zusammen mit seinem Team in jahrzehntelanger Forschungsarbeit Herausragendes geleistet.
Die funktionale Methode basiert auf wissenschaftlichen Erkenntnissen über stimmfunktionale, muskuläre und neuronale Zusammenhänge sowie über akustische Wechselwirkungen mit der Stimme. Sie wurden von Sängern, Ärzten, Neurologen, Stimmwissenschaftlern und Akustikern gemeinsam erforscht. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse decken sich in auffälliger Weise mit dem italienischen „Belcanto“. Das ist keine festgeschriebene Gesangslehre, sondern die Leitsätze dieser Tradition haben sich über viele Generationen hinweg infolge genauer Beobachtung der körperlichen Vorgänge beim Singen entwickelt und etabliert. Das Wissen wurde über 400 lang Jahre von Lehrer zu Schüler weitergegeben und war die Basis für die außerordentliche Gesangskunst im Italien des 17. bis 19. Jahrhunderts. Es ist bemerkenswert, dass auch die Technik heutiger Profisängerinnen und -sänger sehr häufig Merkmale sowohl der traditionellen Aussagen des Belcanto als auch der Erkenntnisse der funktionalen Stimmforschung aufweist. Obwohl beide Ansätze zeitlich sehr weit auseinanderliegen und im Falle der funktionalen Gesangslehre aufgrund deren Entstehungszeit in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts noch gar nicht flächendeckend bekannt sind, scheint es ein dem singenden Menschen immanentes Wissen über die effektivste Art der Stimmbehandlung zu geben. Übereinstimmend zeichnen sich die entsprechenden Gesangsstile durch eine den natürlichen Voraussetzungen entsprechende Herangehensweise und einen wohltönenden Klang aus.
Ziel des funktionalen Gesangstrainings ist der körpergerechte und nachhaltige Umgang mit der Stimme. Er erhöht ihre Differenzierungsmöglichkeit, Tragfähigkeit und Widerstandsfähigkeit und steigert die Lust am Singen erheblich. Auch stimmliche Alterungsprozesse werden verlangsamt und ihre Auswirkungen minimiert, teilweise sogar rückgängig gemacht. Mit funktional gesundem Singen können Sängerinnen und Sänger aller Stilrichtungen ihr Instrument optimal pflegen und lernen, ihr volles stimmliches Potential zu entwickeln und aufrechtzuerhalten bis ins hohe Alter. Obendrein kann die Art, offen, achtsam und positiv mit sich umzugehen, sich nach und nach auch im Alltag manifestieren und ihre physisch wie psychisch befreiende, aufrichtende und stabilisierende Wirkung entfalten.
Gleichzeitig möchte ich betonen, dass es nicht möglich ist, mit Hilfe einer Beschreibung in einem Buch oder anderswo Singen zu lernen, genauso wenig, wie das Wissen über die muskulären und neurologischen Zusammenhänge im Körper eine physiotherapeutische Behandlung ersetzen kann. Das theoretische Wissen unterstützt aber die bildliche Vorstellung und somit die mentale Verknüpfung und die differenzierte Wahrnehmung. Eugen Rabine sagt dazu: „Wissen ohne Praxis, das heißt, ohne es zu üben oder anders praktisch anzuwenden, hat wenig Bedeutung.“ (Renate Rabine, „Die theoretischen Werke von Eugen Rabine – vol. 1“, S. 6)
Ein wichtiges Ziel für mich als Gesangspädagogin ist auch, Menschen eine Stimme, ihre Stimme zu geben, damit sie sich bemerkbar machen, kraftvoll ihren Platz einnehmen, offen und aufrecht ihre persönliche Wahrheit kundtun, kreativ und flexibel auf Veränderungen reagieren und selbst-bewusst konstruktive, harmonische „Vibes“ in die Welt senden können.
FUNKTIONAL SINGEN, WAS IST DAS?
Möglichst einfacher Erklärungsansatz eines sehr komplexen Geschehens
Haltung, Aufrichtung, Atmung
Um als Sänger ein möglichst effizientes „Instrument“ zur Verfügung zu haben, ist es sehr hilfreich, die Zusammenhänge zwischen der Körperaufrichtung, einer speziellen sängerischen Atmung und der Funktion unserer Klangquelle zu berücksichtigen.
Unsere Stimmlippen sind evolutionär gesehen das letzte und auch zuletzt entstandene Ventil zum Schutz der Lunge. Durch seine Fähigkeit zu vegetativ gesteuerter, blitzschneller Schließung bei geringster Irritation schützt es sie vor dem Eindringen von Fremdkörpern. (Man stelle sich nur das berühmte eingeatmete Staubkorn vor, das zu sofortiger Schließung der Stimmlippen mit darauf folgender Hustenattacke führt!) Weil Fremdkörper von außen in uns eindringen, sind die Stimmlippen neuronal mit der Einatmungsmuskulatur verknüpft. Das heißt, in jeder Einatmung, besonders natürlich in einer großen, haben sie eine erhöhte Bewegungs- und Schließbereitschaft. Sie sind in der Lage, von selbst zu schließen. Ihr Verschluss fühlt sich präzise an, manchmal kaum fühlbar. Deutlich wird dieser Reflex beim Schluckauf, nach heutigem Kenntnisstand einem vorgeburtlichen Training der Einatmungsmuskeln.
Durch die Schließung der Stimmlippen in der Einatmung und den daraus folgenden Unterdruck in der Lunge wird eine dominante Kraftanwendung zum Körper hin möglich, z. B. ein Klimmzug. Von der Funktion her sind sie also ein Unterdruckventil: Sie schützen die Lunge vor Aufblähung. Auch wenn das Ventil geschlossen ist, bleibt die Flexibilität des Körpers vollständig erhalten, denn es ist dazu entstanden, dass bestimmte differenzierte Bewegungen ausgeführt werden können.
Dem entgegen steht ein weiteres, etwa einen Zentimeter oberhalb der Stimmlippen gelegenes Ventil: Das sind die sogenannten Taschenfalten. Sie hängen als Schleimhautlappen in die Luftröhre hinein. Sie haben selbst keine Muskeln. Während der Ausatmung können sie von Nacken- und Rachenringmuskeln sowie der Zunge geschlossen werden. Sie dienen der Stabilität des Rumpfes bei dominanter Kraftanwendung weg vom Körper, wie Gebären oder Schieben. Darum sind sie neuronal mit den Ausatmungsmuskeln verschaltet. Für die Ausatmung verengt sich unser Rumpf durch die Kontraktion der Bauchmuskeln. Differenzierte Bewegungsabläufe sind in dieser „Überdruckfunktion“ nicht möglich. Der davon ausgelöste teilweise Verschluss der Taschenfalten und reflektorisch auch der Stimmfalte fühlt sich eher großflächig an, der Hals geht „zu“. Je mehr Druck wir aufwenden, umso größer wird die Verschlussfläche.
Die Natur hat uns den Luxus in die Wiege gelegt, unsere Stimmlippen zum Singen nutzen zu können. Möglicherweise ist das eine von der Evolution vorgesehene Möglichkeit zur Selbstregulation unserer differenzierten und deshalb störanfälligen Psyche. Sicher ist, dass Singen als einzige Tätigkeit ohne direkten Bezug zu den lebenserhaltenden Körperfunktionen in hohem Maße Endorphine, Serotonin und Dopamin ausschüttet.
Um in den Modus des Gesangsreflexes zu kommen, nutzen wir die Kopplung unserer Stimmlippen mit der Einatmungsmuskulatur, denn sie werden dadurch zu hoher Bewegungsbereitschaft angeregt. Der erste Schritt ist also eine große, effektive Einatmung. Ab etwa 50 % Lungenvolumen können wir von einer vollständigen sängerischen Einatmung sprechen, die diesen Regelkreis aktiviert. Am Ende einer solchen Einatmung erleben wir eine leichte Außenrotation der Schulterblätter. Diese Bewegung, verbunden mit einem Gefühl des „Aufatmens“, löst im Idealfall den Gesangsreflex neuronal aus.
Wenn wir singen, was wir in der Ausatmung tun, ist es wichtig, dass die Einatmungsmuskulatur weiter aktiv bleibt, um die Stimmlippen im Aktivitätsmodus zu halten. Die Ausatmung ist daher sanft, mit wenig Luftdruck unter den Stimmlippen, und immer von den Einatmungsmuskeln aktiv balanciert. Der Hals bleibt dabei „offen“. Eugen Rabine nennt das „Unterdruckfunktion“.
Im Gegensatz zum Singen ist Schreien eine Ausatmungsfunktion. Es entsteht durch die Aktivierung der schrägen Bauchmuskeln und ist deshalb mit Überdruck gekoppelt. In gefährlichen Situationen ist eine Anspannung der Bauchdecke und eine davon ausgelöste Verengung der oberen Luftwege bei gleichzeitiger Tongebung durchaus sinnvoll. Dadurch sind sowohl Lunge und Herz als auch die Weichteile geschützt. Dass diese Art der Tonerzeugung die Stimmbänder strapaziert, ist in solchen Augenblicken angesichts ihrer Bedrohlichkeit sekundär.
Also ist die Tätigkeit des Singens auf der einen Seite beglückend und befreiend, auf der anderen Seite ist sie nur in einem geschützten Rahmen optimal möglich: Nur wenn der Mensch sich sicher fühlt, kann er sich und damit den Vokaltrakt in der Weise öffnen, dass diese Öffnung zum Gesangsreflex führt.
Die Bauchmuskeln, die Haupt-Ausatmungsmuskeln, sind am Beginn der Klangerzeugung durch die Erweiterung der Rippen gedehnt. Sie werden während des Singens nach und nach aktiver, je länger die Phrase dauert. Der Bauch darf also nach innen gehen. Das geschieht ganz von selbst, wenn die Einatmungsmuskeln im Bereich der oberen Rippen aktiv bleiben. Dann ist es die antagonistische Reaktion auf die kontrollierte Entspannung und Aufwärtsbewegung des Zwerchfells in der Ausatmung. Bei dieser sängerischen Ausatmung sinkt der obere Brustkorb nicht zusammen. Der Luftverlust führt zu einer allmählichen Verengung im Bereich der freien Rippen unterhalb des Brustbeins und in der Folge auch darunter im Oberbauch. Eine bewusste Kontraktion des Bauches während des Singens ist aber kontraproduktiv. Sie würde den Regelkreis der Überdruckfunktion in Gang setzen. Die Taschenfalten würden nach innen gedrückt und der Resonanzraum dadurch verengt. Der Gesangsreflex würde zusammenbrechen.
Da die Stimmlippen primär ein Schutzorgan für die Atemwege sind, reagieren sie mit Schließtendenz auf jede Irritation im Vokaltrakt. Auch Luftverwirbelungen durch Resonanzstörungen aufgrund von auf akustischen Interferenzen, den sogenannten „Brüchen“, lösen diesen Schließreflex aus. Deshalb ist es unangenehm, auf Höhe des „Bruchs“ bzw. „Übergangs“ Töne zu erzeugen.
Das Zwerchfell ist der einzige reine Einatmungsmuskel. Alle anderen Muskelgruppen sind primär für die Körperaufrichtung zuständig. Erst wenn eine vollständige Aufrichtung gewährleistet ist, werden diese Muskelgruppen auch für die Einatmungsbewegung aktiv. Ein hoher und flexibler Tonus in der Beinmuskulatur wirkt sich deshalb unterstützend auf ihre Aktivität aus. Denn die Beinmuskeln dienen im Stand ausschließlich der Körperaufrichtung. Nur eine stabile und flexible Kette der Aufrichtungsmuskulatur von den Fußsohlen bis zum Atlas ermöglicht deshalb eine Einatmungsaktivität, die für das Auslösen des Gesangsreflexes ausreicht.
Aus diesem Grund ist das bei Kindern bis mindestens zum siebten Lebensjahr, normalerweise aber bis zum Ende der Pubertät, nicht möglich. Ihre Körperaufrichtung und der nötige Körpertonus sind noch nicht vollständig ausgebildet. Das heißt, Kinder singen in einer anderen Funktion als Erwachsene. Sie ist eine Art Rufen. Deshalb entwickeln Kinder in den allermeisten Fällen auch kein Vibrato. Es braucht für die Entstehung eine bestimmte Reife der Muskulatur. Erst beim ausgewachsenen Menschen kann sie die erforderliche Spannung entwickeln.
Die Art der Stimmgebung von Kindern wird heute häufig in den Erwachsenengesang übernommen. Sie wird vor allem in der Popkultur verwendet und nimmt da eine ästhetisch recht beachtliche Stellung ein. Demgegenüber ist das Singen mit Vibrato für viele Ohren ungewohnt, weil es auch in der Kindheit oft nicht gehört wurde. Es ist heute seltener zu finden als früher, als noch eine andere Ästhetik vorherrschte. Weil sich aber zwischen Agonist und Antagonist bei hoher Muskelspannung und gleichzeitig effizienter Balance von selbst ein Entlastungszittern in jeder Muskulatur einstellt, ist Singen mit Vibrato in Wirklichkeit die natürlichste und gesündeste Singweise. Denn bei den klangerzeugenden Stimmmuskeln wird diese regelmäßige Schwingung zusammen mit der erzeugten Tonfrequenz hörbar. Es ist anzunehmen, dass das Vibrieren auf den Tönen beim Instrumentalspiel, das heute allgemein verbreitet ist, seinen Ursprung in diesem Zusammenhang hat.
Vokaltraktgestaltung, Klangerzeugung
WIE die Luft durch unseren Mund nach innen kommt, hat auch ganz wesentliche Einflüsse auf die Qualität unserer Atmung und unseres Singens. Generell gilt: Die optimale Mundöffnung beim Singen beträgt etwa drei bis vier Zentimeter, eventuell je nach Körperbau leicht abweichend. Allerdings ist die Dehnungsbereitschaft des großen Kaumuskels, des kräftigsten Muskels im ganzen Körper, oft eingeschränkt durch psychosomatische Erinnerungsmuster. Es kann ein langwieriger Prozess sein, sie durch vorsichtige Dehnungsübungen und Massage wiederherzustellen.
Bei der Mundöffnung zum Sprechen, Essen und Gähnen wird die die Zunge bei der Kieferöffnung aktiv: Sie drückt durch Kontraktion ihrer hinteren Anteile den Kiefer nach unten und zieht gleichzeitig den Kehlkopf hoch. Dadurch wird er aus der für das Singen günstigen tiefen Position gebracht. Der Kehldeckel wird gegen die Zungenwurzel gedrückt und schließt den Rachenraum. Evolutionär ist das die primäre Aufgabe des Kehlkopfs. Bei der Mundöffnung werden dadurch die Atemwege vor dem Eindringen von Fremdkörpern geschützt. Dazu wird der Vokaltrakt verengt, im Extremfall fast ganz verschlossen. Passiert etwas Ähnliches beim Singen, hat es eine „gequetschte“, „enge“, „knödelnde“ Klanggebung zur Folge. Diese Schließung des Resonanzraumes verlangt den Stimmlippen eine viel größere Anstrengung für die gleiche Lautstärke ab.
Eine Kieferöffnung ohne Zungendruck erfolgt primär durch zwei sehr schwache Muskeln, die von der Unterseite des Kinns ausgehen. Sie haben gegen den übermächtigen Schließer Kaumuskel keine Chance, wenn er nicht nachgibt. Darum ist Kieferöffnung ohne Zungendruck ein komplexer Bewegungsablauf. Er bezieht sehr viele Muskeln mit ein. Deshalb kann er auch nicht willentlich angesteuert werden. Am ehesten ist er mit der Öffnungsbewegung zu vergleichen, die unbewusst ausgeführt wird, bevor man aus einer Flasche einen großen Schluck trinkt. (Wenn man sich dabei beobachtet, merkt man, dass man instinktiv dabei einatmet.)
Für das Singen ist es sehr hilfreich, durch „Schürzen“ der geschlossenen Lippen wie zum Küssen den Unterkiefer schlittenartig vorzuziehen und dadurch die Mimikmuskulatur zu dehnen. Sobald es ohne Druck möglich ist, wird der Lippenring zu „u“, dann „o“, bis zu einem dunklen, ovalen „a“ geöffnet. Die Zunge bleibt dabei vorne. In den Lippenringmuskeln und speziell in den Mundwinkeln bleibt aber eine dauernde Restkontraktion erhalten. Sonst springen sofort andere Muskelgruppen, vorzugsweise die Zunge, „helfend“ ein, um die verlorengegangene Schutzfunktion des Lippenrings zu kompensieren. Im Idealfall bleibt die Spannung in den Mundwinkeln erhalten bis zur vollständigen Dehnung der Stimmfalte. Dehnung entspricht Schließbereitschaft bzw. Rückstellkraft, wie beim Spannen einer Bogensehne. So ist ein optimaler Schutz der Luftröhre gegeben, und gleichzeitig sind die Stimmlippen bereit, bei der folgenden Klangerzeugung die dominante Rolle übernehmen.
Die oberen Atemwege sind eine zentrale, lebenserhaltende Schutzzone unseres Körpers. Ein unachtsames Vorgehen wird reflektorisch immer eine größere Schließung auslösen. Darum ist Behutsamkeit bei der Mundöffnungsbewegung das A und O! Das Ergebnis ist dann eine mühelose, äußerst schnelle und lautlose Einatmung.
Die Qualität der Mundöffnung bestimmt die Qualität der Phonation.
Durch sie wird der Vokaltrakt gestaltet, der sich von den Stimmlippen bis nach oben zum weichen Gaumen und nach vorne zur Mundhöhle erstreckt. Eine sängerisch günstige Gestaltung dieses Raumes gewährleistet eine optimale Resonanz und Klangverstärkung. Sie erleichtert dem tongebenden Organ auf diese Weise äußerst effektiv die Arbeit. Der Vokaltrakt kann seine Form extrem verändern. Die Qualität unseres Klanges, übrigens auch beim Sprechen, hängt zu einem sehr großen Teil von der Gestaltung dieses Raumes ab. Die Position des Kehlkopfs ist variabel. Eine möglichst tiefe Senkung ist für die Klangverstärkung natürlich wünschenswert. Ein großes Instrument klingt voller und reicher als ein kleines! Allerdings darf diese Senkung nicht durch Druck der Zunge nach unten geschehen. Denn das hätte ja wieder eine Verkleinerung des Resonators und eine Dämpfung der entstehenden Klangwellen zur Folge.
Für das Singen nutzt man auch dafür eine vollständige Einatmung. Sie sorgt durch die fasziale Verbindung des Kehlkopfs mit dem Zwerchfell über die Lunge dafür, dass er durch die Zwerchfellkontraktion mit nach unten gezogen wird und die Stimmfalte sich öffnet. Diese Senkung kann bis zu sieben Zentimeter betragen. In der funktionalen Fachsprache heißt das „Trachealer Zug“.
Eine wesentliche Voraussetzung für eine gute Raumgestaltung ist auch die Bereitschaft der Schluckmuskulatur, nachzugeben, zu öffnen und aktiv zu runden. Das sind komplementäre Bewegungsabläufe zu denen, die bei der Primärfunktion dieser Muskelgruppe aktiviert werden, denn Schlucken bedeutet Schließen. Darum sind sie sehr ungewohnt und nicht leicht anzusteuern. Einzig bei den Schlundmuskeln, auf lateinisch Constrictoren, ist in der Funktion des Würgens eine Rundungskomponente auch reflektorisch vorgesehen. Das alles zu erkennen und zu erlauben ist nicht einfach und kann physisch und psychisch herausfordernd sein. Es braucht Geduld, Achtsamkeit und Zeit. Sonst kann es Stress auslösen, was dann zu größerer Schließung führt.
Neben der reinen Klangverstärkung kann unser Vokaltrakt durch kleine Positionsänderungen in Zunge, Lippen und Rachenrückwand auch die Vokalfarben modifizieren. Im besten Fall ändern diese Artikulationsbewegungen aber nichts an der Form des Resonanzraumes und der Klangqualität. Dann bleibt die direkt am Kehlkopf fühlbare tiefe Frequenz verbunden mit der hohen Frequenz am weichen Gaumen, ohne dass sich die Zunge als dämpfende und verengende Komponente störend dazwischenschiebt. In der sängerischen Fachsprache heißt das „Vokalausgleich“.
Das Ergebnis ist die sängerische Artikulationsbewegung. Ihr Hauptziel ist eine möglichst ungestörte Klangentwicklung. Deshalb weist sie gravierende Unterschiede zur Artikulationsbewegung beim Sprechen auf, besonders bei den „schließenden“ Vokalen. Das helle „a“ und das geschlossene „i“ kommen in der sängerischen Artikulation in der Form gar nicht vor, in der sie beim Sprechen gebraucht werden. Diese Vokale werden für die sängerische Artikulation ganz anders gebildet. Bei der Sprache liegt der Fokus auf Textverständlichkeit und Informationsaustausch, und der Stimmklang wird deshalb im Zweifelsfall sekundär behandelt. Beim Singen ist es naturgemäß genau umgekehrt.
Auch für die Raumgestaltung beim Singen gilt immer die Reihenfolge, zuerst den Körper zu tonisieren, um dann dadurch eine vollständige Atmung zu ermöglichen. Nur wenn die Haltungsmuskeln stabil und zugleich flexibel sind, können die feinen und differenzierten Bewegungen in Atmungsapparat und Vokaltrakt effizient ausgeführt werden.
EVOLUTION DES SINGENS
Singen in der funktionalen Weise, wie Eugen Rabine es versteht, ist eine Art, den Körper zur Klangerzeugung zu nutzen, die dem Menschen aufgrund seiner vollständigen Aufrichtung als einzigem Lebewesen zur Verfügung steht. Allein die echte Aufrichtung des Körpers mit seinem Klangraum im Inneren ermöglicht die Entstehung einer stehenden Klangsäule, wie sie für das Singen benötigt wird.
Der Vokaltrakt erstreckt sich von den schwingenden Stimmlippen bis zum geschlossenen Gaumensegel beim erwachsenen Menschen etwa zwölf bis fünfzehn Zentimeter vertikal nach oben. Die Klangerzeugung ist ein komplexer, sich selbst regulierender reflektorischer Ablauf zwischen dem Vocalismuskel und dem Ringknorpel-Schildknorpelmuskel. Dabei sorgt ein Grundtremor der antagonistisch arbeitenden Muskulatur von etwa 5-7 Hz für ausgleichende Entlastung während der kontinuierlichen Muskelarbeit. Die dafür nötige Balance zwischen den Agonisten Vocalis und Kehlkopfmuskel kann nur erreicht werden durch die starke Senkung des Kehlkopfs. Sie findet während der Entwicklung von Kind zum Erwachsenen statt und kommt so nur beim Menschen vor. Ohne diese Senkung wären die anatomischen und akustischen Voraussetzungen für eine derart differenzierte Erzeugung von Tönen nicht gegeben. Anders gesagt, die aufgerichtete Körperhaltung ist die Voraussetzung für die Fähigkeit zu singen. Aufgrund dieser Aufrichtung haben wir überhaupt die Möglichkeit, unsere Mund- und Mimikmuskulatur so flexibel zu bewegen, dass wir sprechen können. Sie ist also auch die Basis für die Entwicklung der menschlichen Kultur allgemein.
Nach neueren Erkenntnissen hat sich die aufrechte Haltung, die uns von allen anderen Tieren unterscheidet, in zwei Schritten vollzogen: Als die frühen Vorfahren des Menschen sich auf die Bäume schwangen, um neue sichere und nahrungsreiche Lebensräume zu erschließen, wurde außer dem Überdruckventil, den sogenannten Taschenfalten, das die Ausübung von Druck weg vom Körper ermöglicht, ein Unterdruckventil nötig, um bei über den Kopf gehobenen Armen eine allzu starke Aufblähung der Lunge zu verhindern. Das waren die Vorläufer der Stimmlippen.
Später, in einem von Eugen Rabine als „second waterperiod“ (Eugen Rabine, „Keys to voice“, S. 82) bezeichneten Entwicklungsschritt, verlegten die Hominiden vermutlich ihren Lebensraum von den Bäumen an die Ufer der Flüsse, Seen und Ozeane, um ihr Nahrungsangebot zu erweitern. Sie lernten, im seichten Wasser Fische zu fangen. Dafür spricht der stromlinienförmige Körperbau, der einzigartig ist unter allen Primaten, und ebenso die Form und Position des menschlichen Beckens vertikal über den Beinen. Die horizontale Nasenöffnung, die das Eindringen von Wasser erschwert, die Fähigkeit, mit Hilfe des weichen Gaumens die Nase von innen zu schließen und die Reste von Schwimmhäuten zwischen den Fingern lassen ebenfalls auf Aktivitäten im und unter Wasser schließen. Unsere angeborene Vorliebe für Wasser und Leben an Gewässern sowie Größe und Eiweißbedarf unseres Gehirns, der allein durch die Nahrung der anderen Primaten niemals gedeckt werden könnte, sind weitere Hinweise dafür.
Allmählich veränderte sich der Körperbau, durch den Auftrieb des Wassers unterstützt, bis die vollständige Aufrichtung möglich wurde. Dadurch senkte sich der Kehlkopf sich in den verlängerten Hals ab und nahm stark an Beweglichkeit zu. Damit waren die anatomischen Voraussetzungen für Gesang und Sprache geschaffen. Noch heute entwickelt sich jedes neugeborene Kind auf die gleiche Weise, und funktionaler Gesang mit dem Vibrato als Regulativ ist daher auch erst nach der Pubertät und damit der vollständigen Kehlkopfsenkung möglich. Davor gibt es in der Regel nur eine Form des Rufens bzw. auch Schreiens, um Töne zu erzeugen.
VORBEMERKUNG
Im Folgenden möchte ich versuchen, in alphabetischer Anordnung einen Einblick zu geben in die funktionalen Gegebenheiten und Vorgänge beim Singen. So kann man sich wie bei einem Lexikon je nach Interessenlage über einzelne Themenbereiche informieren. Manches wiederholt sich in unterschiedlichen Zusammenhängen, weil bestimmte Informationen für verschiedene Themenbereiche relevant sind. Das ist nötig, um die einzelnen Punkte möglichst verständlich darzustellen.
Trotzdem soll das keine medizinische Abhandlung für Spezialisten sein. Deshalb bemühe ich mich um verständliche Formulierungen, nach Möglichkeit ohne lateinische Fachbegriffe.
Es erscheint mir wichtig, die ohnehin sehr komplexen Abläufe so eindeutig und nachvollziehbar wie möglich darzustellen, auch für Menschen ohne entsprechende Vorkenntnisse auf diesem Gebiet. Mein Ziel ist, einen Kompromiss zu finden zwischen einer korrekten, allgemein anwendbaren Begrifflichkeit und einer assoziativen Ausdrucksweise, die eine bildliche Vorstellung fördert von den unsichtbaren, aber logischen Zusammenhängen in unserem Körper.
Auf dem Gebiet der Gesangspädagogik existiert eine solche Vielfalt an sich teilweise von Schule zu Schule widersprechenden Fachjargons, dass ich ein Vokabular anbieten möchte, das sowohl klar die Sachverhalte benennt, als auch flüssig zu lesen ist. Dafür habe ich vor allem die aus der Überlieferung des Belcanto üblichen, italienischen Begriffe gewählt sowie die Fachbegriffe der funktionalen Stimmpädagogik. Das heißt, ich verwende weitestgehend die Terminologie, die Eugen Rabine geprägt hat, und die im Rabine-Institut übereinstimmend für Lehr- und Unterrichtszwecke genutzt wird.
Auf diese Weise möchte ich einen Beitrag leisten zur Verbreitung der wichtigen und interessanten Erkenntnisse der heutigen funktional orientierten Stimmforschung. Ich verbinde damit die Hoffnung, dass alle, die sich für das Wesen des Singens interessieren, inspiriert werden und neue Ideen erhalten, wie sie für sich selbst und ihre Schülerinnen und Schüler einen natürlichen und bio-logischen Zugang zu dieser wundervollen Körperfunktion erschließen können.
BELCANTOBEGRIFFE UND FACHAUSDRÜCKE FUNKTIONAL ERKLÄRT A - C
APERTO MA CUPERTO
Der Begriff „suono aperto“, „offener Klang“, bezieht sich auf den horizontalen Durchmesser des Vokaltrakts: Die Constrictoren, die Schlundmuskeln, bilden die hintere Wand, und der hintere Zungenrücken die vordere Wand des Vokaltrakts. Je mehr die Constrictoren runden und je weiter vorne die Position des Zungenrückens ist, desto weiter geöffnet ist der Vokaltrakt.
Mit dem Begriff „offene Vokale“ wird im deutschen Sprachgebrauch der Grad der Kieferöffnung bezeichnet („Ofen - offen“!). Offene Vokale in dieser Bedeutung gibt es im Deutschen allerdings nur als kurze Vokale, lang gesprochene Vokale sind immer geschlossen. In anderen Sprachen, etwa im Italienischen, gibt es andere Strategien für die Bildung von offenen Vokalen.
Das im Deutschen dafür nötige Aufklappen des Unterkiefers ist aber nicht gleichzusetzen mit der horizontalen Weite des Klangraumes. Im Gegenteil: Es ist sogar kontraproduktiv, den Kiefer weiter als höchstens etwa drei bis vier Zentimeter zu öffnen (gemessen am vorderen Zahnreihenabstand). Denn darüber hinaus könnte der Unterkiefer aufgrund seiner Anatomie nur mit Hilfe von Zungendruck geöffnet werden. Das hätte zur Folge, dass der Zungenrücken nach hinten in den Rachen geschoben und der Vokaltrakt also teilweise wieder verschlossen würde. Beim Saugen und Trinken wird diese Weite nicht überschritten. Sobald die Zunge an der Öffnung beteiligt ist, wird die Erzeugung eines Sogs unmöglich und damit auch der Vorgang des Trinkens.
Grundton und erster Vokalformant werden wegen der akustischen Gegebenheiten vor allem im unteren Teil des Vokaltrakts verstärkt. Die dunklen Anteile des Stimmklangs werden demnach nur hörbar, wenn dieser Bereich offen und stabil ist. Das ist nur dann der Fall, wenn der Kehlkopf tief steht, die Constrictoren gerundet sind und die Zunge als vordere Wand des Vokaltrakts eine stabile Membran bildet. Dann dringen alle Anteile des Klangspektrums nach außen. Ohne Verengungen entsteht auch keine Dämpfung der tiefen Frequenzen der Schwingung.
„Suono cuperto“, „gedeckter Klang“, bezieht sich auf den geschlossenen weichen Gaumen. Bei einer Kieferöffnung über zwei Zentimeter mit gerundeten Lippen schließt sich reflektorisch das Gaumensegel. Das hat evolutionäre Gründe. Für die sängerische Klangerzeugung bleibt gleichzeitig der obere Riechweg der Nase offen und der Kehlkopf gesenkt infolge des Saugreflexes, der Einatmungstendenz.
APPOGGIARE LA VOCE
„Appoggiare la voce in petto“, oder auch "appoggiarsi in petto“, ist ein Belcantobegriff, der sich auf die Wahrnehmung bezieht, dass das menschliche „Instrument“ eine spürbare Begrenzung hat, die aber keine einengende, sondern vielmehr eine die Stimmgebung (unter-)stützende Empfindung auslöst. Er beschreibt das Gefühl, „die Stimme von innen am Brustkorb anzulehnen“ im Augenblick des Stimmeinsatzes.
Die funktionale Lehre definiert die Gesangsfunktion als:
Die Beibehaltung der Dominanz der Aktivität der Einatmungsmuskulatur über die Aktivität der Ausatmungsmuskulatur während der Ausatmung.
Diese Einatmungsdominanz bewirkt eine Drosselung der Fließgeschwindigkeit der ausströmenden Atemluft. Der Vorgang ist vergleichbar mit dem kontrollierten Absetzen eines schweren Gegenstandes, bei dem die hebende Muskulatur, bei den Armen also der Bizeps, die Bewegung kontrolliert. Das ist eine sehr komplexe, vom Gehirn gesteuerte Balance zwischen der Aktivität von zwei antagonistisch arbeitenden Muskelgruppen. Auf die Atemmuskulatur übertragen heißt das: Die Einatmungsmuskeln, vor allem also das Zwerchfell und die äußeren Zwischenrippenmuskeln, halten ihre Aktivität aufrecht und erhöhen sie zur Stabilisierung sogar noch in dem Augenblick, in dem die Ausatmung beginnt. Das bewirkt eine leichte Vergrößerung des Brustdurchmessers von hinten nach vorne, vom Rückgrat zum Brustbein, im Moment des Einsatzes.
Dieser Effekt stellt sich allerdings nur bei seitlicher Erweiterung der Rippen während der Einatmung ein. Durch die Rippenerweiterung wird die Bauchdecke dabei passiv leicht nach innen gezogen.
Verwechslungsgefahr besteht mit dem nach aktiven nach innen Drücken der Bauchdecke durch die schräge Bauchmuskulatur wie bei einem Akzent: Das würde Dominanz der Ausatmungsmuskulatur über die Einatmungsmuskulatur bedeuten und somit Überdruckfunktion. Denn die schrägen Bauchmuskeln sind die Haupt-Ausatmungsmuskeln.
„Appoggiare la voce in testa“, „die Stimme im Kopf anlehnen“, beschreibt das stabile Gefühl im weichen Gaumen infolge seiner reflektorischen Hebung bei der sängerischen Kieferöffnung. Das suggestive Bild einer „Höhle“, in der Belcantosprache „cavità“, an deren „Wänden“ der Klang widerhallen, resonieren und sich „anlehnen“ kann, bietet sich für diese Wahrnehmung an.
ARTIKULATION
Der Begriff Artikulation kommt in zweierlei Hinsicht beim Gesang vor: Auf der stimmlichen Ebene bedeutet er, dass verschiedene Tonhöhen, Tonlängen oder dynamische Abstufungen klar voneinander getrennt wahrnehmbar sind. Diese Ausdrucksweise ist übernommen vom Instrumentalspiel. Beim Gesang ist aber ein neuronales Programm des Vocalismuskels für all diese Abstufungen zuständig. Der Versuch einer willentlichen Steuerung kann das komplexe Geschehen nicht unterstützen, sondern nur stören. Deshalb gibt es für diese Form der Artikulation beim Singen auch keine direkt erlernbaren Techniken, wie das beim Instrument der Fall ist.
Die Erfahrung, dass die Stimme ein Eigenleben führt und all das ohne willentliches Zutun, nur über „Wünschen“ bewerkstelligt, ist Ziel und Endpunkt des funktionalen Werdegangs („Es singt.“). Überlässt man nämlich das Geschehen der unwillkürlichen autonomen Steuerung, beginnt das System, über die Stimmlippen die Funktion zu regeln. Schwingungsfrequenz und Vibrato sind dann die organisierenden Parameter. Tonwechsel und Veränderungen in der Dynamik werden dann nicht durch Luftdruck, sondern autonom im Rhythmus des Vibratos organisiert.
So wird das berühmte „messa di voce“, das gleichmäßige An- und Abschwellenlassen eines Tones in jeder Lage, vom Vocalis selbst reguliert. Durch diese direkte unwillkürliche Steuerung entstehen auch „perlende“ Tonhöhenwechsel, die mit einer willentlichen oder muskulären Kontrolle niemals erreicht werden könnten. Sie wäre dafür viel zu schwerfällig. Ein häufig dafür verwendeter Begriff ist auch „agilita”, „Geläufigkeit“. Der am ehesten dazu passende Belcantobegriff lautet „non saponare“, auf deutsch „nicht schmieren“: Ähnlich wie bei der auch relativ komplexen Aktivität des Schreibens setzt diese Forderung vor allem die mentale Bereitschaft zu Sorgfalt und Achtsamkeit in der Wahrnehmung voraus. Und die ist der Schlüssel zum Gesangsreflex: Energie folgt der Aufmerksamkeit.
Das Programm der Artikulation in Bezug auf die Wortbildung hingegen ist ein ganz tiefer Inprint im Gehirn. Er wird im frühen Kindesalter erworben, bei noch extrem hochstehendem Kehlkopf und unvollständiger Körperaufrichtung. Für die Sprachartikulation wird der Klangstrom von geräuschhaften Konsonanten immer wieder unterbrochen. Beim Singen dagegen schwingt der Vokal durch alle Konsonanten durch. Das ist ein komplett anderes Artikulationsprogramm. Die Prämisse dabei ist die Qualität der ungestörten Stimmlippenschwingung. Ihr ordnen sich alle Artikulationsbewegungen unter.
Tonerzeugung, Textartikulation und Klangempfindung sind demnach beim Gesang verschiedene Funktionen und laufen getrennt voneinander auf vier Ebenen ab: Der Stimmklang wird im Kehlkopf erzeugt. Die Zunge leitet die Bildung der Vokale und Konsonanten. Damit das möglichst störungsfrei geschehen kann, bleibt der Kiefer dabei so weit offen, wie es möglich ist, ohne die Vokaltraktweite zu reduzieren. Die Vokalartikulation findet im Unterschied zum Sprechen nämlich vor allem direkt über dem Kehlkopf in waagerechter Richtung statt, ähnlich wie bei der Technik des „Bauchredens“. Die Bildung der Vokale vollzieht sich hauptsächlich zwischen Rachenringmuskulatur und Zungenwurzel. Diese Bewegung wird von der Rundung des Rachenraumes geleitet. Sie muss wie eine fremde Sprache mit bisher teilweise unbekannten Vokalfarben neu gelernt werden. Gleichzeitig wird die im Kopf spürbare Resonanz der Schwingung immer stärker, je höher der gesungene Ton ist. Die Konsonantartikulation erfolgt dazwischen im vorderen Mundraum, im Bereich des harten Gaumens.
Im Unterschied zur Spracherzeugung werden Konsonanten beim Gesang nicht mit Überdruck gebildet, sondern gewissermaßen im „Einatmungsmodus“. Grund ist die dominant leitende Einatmungsmuskulatur während des Singens. Diese Form der Artikulation zu entwickeln, ist ein wesentlicher Bestandteil von funktionaler Stimmbildung.
Die Binnendynamik, die in der Artikulation von Texten immer enthalten ist, unterliegt emotionalen Gesetzmäßigkeiten. In vielen Sprachen sind beispielsweise die Nachsilben dynamisch zurückgenommen im Verhältnis zur Grundlautstärke, und Sinnzusammenhänge werden durch eine dynamische Hervorhebung innerhalb einer Aussage gekennzeichnet.
Bleibt also trotz der Artikulation von Texten während der Phonation das Programm des Singens gegenüber dem des Sprechens dominant, können diese dynamischen begrifflichen Ausdrucksmittel eins zu eins in den Gesang übernommen werden. Denn ihre Wurzel liegt im Ausdrücken von Gefühlen, die ja auch beim Sprechen immer unterbewusst mitlaufen. Weil die Emotionen aber von nahezu den selben Gehirnregionen gesteuert werden wie die Reflexe, dienen sie so einer authentischen Textgestaltung und gleichzeitig der natürlichen, reflektorischen Klangerzeugung.
ATMUNG
Der Atem eines Menschen ist Studien zufolge so individuell wie seine Stimme oder sein Fingerabdruck. Denn die Atemmuster reflektieren die Aktivität des vegetativen Nervensystems wie Herzschlag, Atmung und Verdauung. Außerdem reagieren sie vorbereitend in ganz spezieller Weise auf jedes Vorhaben, sei es bewusst oder unbewusst. Auch bestimmte psychologische Merkmale haben direkten Einfluss auf den Atemablauf. Es ist also naheliegend, dass eine Optimierung der Atmung hin zu Öffnung, Befreiung und Ausdehnung positive Auswirkungen auf Körper und Gemüt haben kann.
EINATMUNG
Die Einatmungsaktivität ist eine muskuläre Aktivität vor allem des Zwerchfells, des Haupt-Einatmungsmuskels. Sie ist nach unten und zu allen Seiten gerichtet, damit eine vollständige Erweiterung der Lungen möglich wird. Die horizontale Kontraktion des Zwerchfells erweitert die unteren fünf Rippenpaare nach rechts und links, in geringerem Maße auch nach hinten und vorne. Die obere Bauchdecke wird infolge der Vergrößerung des Körperumfangs gedehnt und direkt unterhalb des Brustbeins dadurch sogar leicht nach innen gezogen. Diese Erweiterung fühlt sich befreiend an. Alle Menschen, aber auch die Tiere haben das Bedürfnis, sich zu dehnen, um eine erweiterte Atmung zu ermöglichen. Einengende Kleidung ist für das Singen deshalb kontraproduktiv.
Die Einatmungsmuskulatur ist über funktionale Ketten mit anderen Körperbereichen verbunden. Durch die Einatembewegung können sie angesteuert werden, und umgekehrt haben Bewegungen in diesen Körperteilen Einfluss auf die Atmung. Dieser Zusammenhang ist Grundprinzip und Basis vieler Unterrichtsmethoden.
Die effizienteste Atmung bei allen körperlichen Aktivitäten ist die Mundatmung. Nasenatmung ist Ruheatmung, denn der Luftaustausch erfolgt dabei viel langsamer. Ihre Vorteile liegen hauptsächlich in der Filterung und Erwärmung der Luft.
Je weiter die Mundöffnung für den zu erzeugenden Sog ist, je größer also die Sogwirkung ist, desto weiter hinten wird das Zwerchfell aktiviert, denn es kann sich hinten weiter absenken. Umso tiefer wird dann die Einatmungsbewegung. Die Öffnung des Brustkorbs findet dabei von unten nach oben statt. Was bereitgestellt wird durch diese muskuläre Erweiterung des Lungenraumes, wird durch den erzeugten Luftdruckunterschied zwischen Außen- und Innenbereich mit Luft gefüllt. Konkret ist Einatmung also eine Positionsänderung, kein Zug. Durch sie öffnen sich die Luftwege reflektorisch. Der Kehlkopf wird dabei mit nach unten bewegt.
Beim Singen bleibt das Einatmungsprogramm aktiv. Dadurch ist gewährleistet, dass die Luftwege vollständig geöffnet bleiben. Das ist für die Resonanz von entscheidender Bedeutung: Der Kehlkopf bleibt dann in Tiefstellung trotz erfolgender Ausatmung. Durch diese tiefe Kehlkopfposition ist der weiche Gaumen reflektorisch gehoben und der „obere Luftweg“, der für das Riechen zuständig ist, geöffnet. Enrico Caruso bezeichnet das als „zum Singen Einatmen, als ob man an einer Rose riecht“. Dieses Bild gilt allerdings nur für den Beginn der Einatmung: Sängerische Einatmung ist Mundatmung mit geöffnetem Riechweg. Die Nase ist geschlossen. Der weiche Gaumen schließt sie bei etwa einem Drittel der möglichen Kieferöffnung reflektorisch.
Ideal ist ein Einatmungsvolumen der Lunge von ca. 75%. Am Ende der Einatmung werden sowohl der innere Hüftmuskel als auch der große Brustmuskel aktiv. Bei noch größerer Einatmung besteht die Gefahr, dass sich weitere Hilfsmuskeln vor allem im Nackenbereich dazuschalten. Das würde Hochatmung bedeuten und dem System die Flexibilität nehmen, die für die subtilen Vorgänge beim Singen nötig ist.
Das Signal für das Ende der Einatmung ist eine Positionsänderung der fünften Rippen in Bezug zur Wirbelsäule, die auch den Nies- und den Gähnreflex auslöst. Die Wahrnehmung dieser Erweiterung ist sehr angenehm. Interessant zu beobachten ist die Tatsache, dass sowohl der Vorgang des Niesens als auch des Gähnens durch Atmen in den Bauch, also ohne ausreichende Weitung der Rippen, vom Körper unterbrochen wird. Der Reflex wird dann nicht ausgelöst. Auch der „Seufzer der Erleichterung“ entspringt dieser „Füllhöhe“ der Lungen. Beim Räkeln, der exzentrischen Kontraktion der Atemmuskulatur, spielt diese Wahrnehmung ebenfalls eine Rolle. Diese feine Atemdosierung wurde schon im 18. Jahrhundert als „forza naturale del petto“, also als „natürliche Aktivität der Brust“ bezeichnet.
Bei der Einatmung bis zu diesem Lungenvolumen gibt es eine Neurokopplung zwischen der Einatmungsmuskulatur und den Stimmlippen. Sie löst reflektorisch eine Stimmlippenschließung und damit den Gesangsreflex aus.
Eine Kontrolle über den Atemablauf unterhalb des Mundraums ist nicht möglich. Er ist lebenserhaltend und deshalb vorprogrammiert.
Durch die Kehlkopfsenkung werden die Stimmlippen geöffnet und gedehnt. Die Belcantoschule hat dazu den Satz geprägt: „Gut atmen heißt den Grund der Kehle öffnen“. Sie erhalten dadurch mehr Tonus, wie eine Saite, die gespannt wird. Dadurch erhöht sich ihre Schließbereitschaft, nicht nur mechanisch, sondern auch von der Anzahl der neuronalen Impulse her. Beim Toneinsatz wird sie in kinetische (Bewegungs-)Energie umgewandelt.
AUSATMUNG
Bei der Ausatmung schließen die Atemwege leicht. Das hat evolutionäre Gründe: Zu schneller Luftverlust würde die Gefahr mit sich bringen, dass das Lungengewebe zusammenfällt. Bei starker körperlicher Anstrengung entsteht deshalb ein keuchendes Geräusch durch Widerstände in den Atemwegen. Diese Form der Ausatmung ist für das Singen selbstverständlich sehr ungünstig.
Das funktionale Singen zeichnet sich daher durch eine spezielle Sonderform der Ausatmung aus: Damit die Atemwege offen bleiben, wirkt währenddessen die Einatmungsmuskulatur dominant weiter, obwohl die Klangerzeugung ja während der Ausatembewegung geschieht.
Darum ist am Beginn des erzeugten Tones der quere Bauchmuskel der einzige aktive Ausatmungsmuskel. Die eigentlichen Ausatmungsmuskeln, nämlich die schrägen Bauchmuskeln, würden die erreichte Rippenerweiterung sofort wieder reduzieren. Sie können sich am Ende von langen Phrasen dazuschalten, um das untere Drittel der Lunge zu komprimieren. Dabei werden sie aber immer geleitet von der weiterbestehenden Einatmungstendenz.
Sind die Atemmuskeln gut trainiert, ist sängerische Ausatmung auf diese Weise möglich bis zum Residualvolumen über das Ruheatmungsvolumen hinaus. Die Einatmungstendenz bleibt dabei erhalten: Die Einatmungsmuskeln halten immer mehr dagegen und dosieren so die Ausatmungsaktivität. Durch dieses Programm schließt sich an das Ende der Tonerzeugung sofort die nächste Einatmung an. Die Einatmungsmuskeln sind ja gerade dann höchst aktiv.
Trotz der sehr tonisierten und wachen körperlichen Disposition, die für die sängerischen Klangproduktion unerlässlich sind, aktiviert die sehr langsame Ausatmung beim Singen den Vagusnerv, ähnlich wie bei einer Meditation. Sehr suggestiv sagt die Belcantoschule zu dieser sängerischen Atemführung „portare la voce“, „die Stimme tragen“, auf dem Atem, genauer gesagt, auf der dominant agierenden Einatmungsmuskulatur, ähnlich, wie man vorsichtig einen wertvollen Gegenstand vor sich herträgt. Auch das tut man ja behutsam, mit langsamen Bewegungen und in aufrechter Haltung. Wechselt die Dominanz von der Einatmungs- zur Ausatmungsmuskulatur, in die Überdruckfunktion, stoppt der Gesangsreflex.
AUFRICHTUNG
„Der Sänger stehe wie ein Baum“ ist ein beliebter Belcanto-Ausspruch. Schon Pier Francesco Tosi (1654-1732) beschrieb in seinen „opinioni de cantori“ eine aufrechte, würdige Haltung als Voraussetzung für einen störungsfreien Stimmklang. Singen ist jedoch permanente Mikrobewegung im Stehen. Erstarrung oder Fixierung in irgendeinem Teil des Systems behindert die nötige Anpassung an die sich durch die Atembewegung ständig ändernden Bedingungen. Ein Baum ist zugleich stabil und flexibel. Die Balance zwischen diesen beiden Parametern ist die Basis des funktional stimmigen Gesangs. (s. Abb. 3 und 9)
Von den Fußsohlen bis zum Scheitel ziehen sich aufrichtende Muskelschlingen durch den ganzen Körper. Die Wadenmuskulatur existiert sogar allein für die Aufrichtung. Ohne sie ist aufrechte Haltung unmöglich. Eine vollständige Aufrichtung ist unerlässlich für eine funktionierende Phonation.
Die Wirbelsäule mit ihrer Doppel-S-Form bildet bei optimaler Aufrichtung eine Linie von der unteren Lordose bis zum Atlas. (s. Abb. 10) Allerdings ist diese Krümmung bei vollständiger Aufrichtung „von den Hacken bis zum Nacken“ nur noch in geringem Maße vorhanden. Einzig die Lendenwirbelsäule wird durch die Aktivierung von Bein- und Beckenbodenmuskulatur stärker gekrümmt als im Ruhezustand. Dadurch kippt das untere Becken nach vorne.
Die Aufrichtung der Wirbelsäule beginnt am oberen Rand des Beckens und setzt sich fort bis zum Atlasgelenk, auf dem der Schädel sitzt. Die untere Beckenkippung ist die komplementäre Gegenbewegung dazu. Diesen Bewegungsimpuls bezeichnete Caruso als „vom Unterleib her ansetzen“. Sie erfolgt während der ersten sängerischen Einatmung und verstärkt sich durch alle nachfolgenden Phonations- und Nachatmungsphasen hindurch immer weiter. Diese Tonisierung der Beckenbodenmuskulatur setzt sich bis in die Beine fort. Der davon getriggerte Impuls, ein Bein zu heben, hat möglicherweise zu der verbreiteten Annahme geführt, Stehen im Ausfallschritt, mit Stand- und Spielbein, sei für die Phonation förderlich. Da diese Haltung aber nicht symmetrisch ist, ist eine gleichmäßige Gewichtsverteilung auf beide Beine bei gleichzeitiger Tonisierung der aufrichtenden Muskelschlingen die günstigste Position beim Singen.
Auch die neurologische Verbindung zwischen dem unteren Sphinktersystem des Beckenbodens und dem oberen der Atemwege hat Einfluss auf eine sängerische Aufrichtung. (Ein Sphinktersystem ist ein ringförmiges Muskelsystem, das in Schließung gehen kann.) Sie sind so verschaltet, dass immer dann, wenn das eine System Öffnung erlaubt, das andere schließt. Diese Verbindung dient der Fähigkeit, im Brust- und Bauchbereich Druck aufzubauen: Wenn das obere System schließt, kann Überdruck entstehen, wenn das untere schließt, entsteht Unterdruck. Wenn also die Beckenbodenmuskulatur kontrahiert, erlaubt das den oberen Atemwegen auch neuronal die Öffnung.
Im Grunde ist die typische „Sängerhaltung“, das „sich in Positur Stellen“ durch die dadurch bewirkte Erweiterung des oberen Brustraumes praktisch gleichbedeutend mit der sängerischen Einatmung. Für ungeübte Augen kann dabei der Eindruck entstehen, Profis würden überhaupt nicht einatmen, bevor sie zu singen beginnen: Sie nehmen gern die Hände vor der Brust zusammen, richten sich „würdevoll“ auf, erheben den Blick „bis in den zweiten Rang des Opernhauses“ und schürzen ganz leicht die Lippen, wie wenn sie „an einer Rose riechen“. Dann öffnen sie einfach den Mund und beginnen zu singen. All das entfaltet den Vokaltrakt, vom oberen Nasenweg bis zu den Stimmlippen, und entfächert die Rippen. Durch den entstehenden Sog „fällt die Luft“ von selbst in das sich öffnende Vakuum. Durch die Mundöffnung und den Zug vom Zwerchfell werden die Stimmlippen zwischen Schildknorpel und Stellknorpeln „gespannt“ und sind bereit für den Stimmeinsatz.
Während des Singens werden dann häufig die Arme zu beiden Seiten geöffnet. Durch diese typische „Sängerhaltung“ wird die Erweiterung der oberen Rippen aufrechterhalten und damit das Neuroprogramm der Einatmung unterstützt. Die ständigen minimalen, aber gleichzeitig äußerst differenzierten Bewegungen, die den Luftverlust ausgleichen, sind so wenig von außen wahrnehmbar, dass die italienische Gesangslehre für die Haltung beim Singen zwei Begriffe geprägt hat: „stare come una statua“, „stehen wie eine Statue“, und „stare su una barca ancorata“, „auf einem Boot stehen, das vor Anker liegt“. Diese beiden Bilder beschreiben anschaulich die Attribute der sängerischen Aufrichtung: Stabilität und Flexibilität. Die durch die ständige Veränderung des Körperschwerpunkts in der Ein- und Ausatmung nötige Nachregulierung der Balance wird von den balanciert schwingenden Stimmlippen neuronal gesteuert.
Die komplette Statik reagiert auf die Atmung, denn die sekundäre Atemmuskulatur ist in erster Linie Körperaufrichtungsmuskulatur. Stimmt die Statik nicht, ist eine vollständige Einatmung unmöglich. Von hinten unten über vorne oben nach vorne unten ist die Richtung der aufrichtenden Muskelschlinge, ähnlich dem Prinzip beim Flaschenzug oder auch dem beim Hissen eines Segels. Dabei kann die innere Raumwahrnehmung als Orientierung für eine gleichmäßige Aufrichtung dienen. Dieser Bewegungsablauf ist uns assoziativ vertraut als Aufrichtungsablauf beim Auftauchen vom Grund eines Gewässers: Der erste und dominante Impuls geht von den Fersen aus. Daraufhin strecken sich Füße, Beine und Rücken. Die Hebung und Schwimmbewegung der Arme, die Streckung der Körpervorderseite folgen. Am Ende wird der Kopf gehoben.
Die Anweisung aus dem Belcanto, „die Knie locker zu lassen bei großer Höhe“, bezieht sich vermutlich auf das Loslassen der Kniescheiben. Denn das Hochziehen der Kniescheiben ist eine schließende Schutzbewegung. Deshalb kann sie andere schließende Reaktionen hervorrufen.
Die größtmögliche Aufrichtung beinhaltet auch eine größtmögliche Öffnung. In der Belcantosprache heißt das „con espansione“. Dabei wird vom Einatmungsprogramm für die sängerische Klangerzeugung die Aufrichtungsbewegung so organisiert, dass die vollständige sängerische Einatmung möglich wird.
Die Qualität der Aufrichtung bestimmt die Qualität der Einatmung.
Haltung, sowohl in der körperlichen Position als auch im Kehlkopf selbst, ist bewusst nicht wahrnehmbar. Das Gehirn gewöhnt sich schnell an Zustände und realisiert sie dann nicht mehr. Bewusst spürbar ist nur Bewegung und Veränderung. Das macht es schwer, die eigenen gewohnheitsmäßigen Haltungen selbst zu erkennen, um sie durch zielführendere Strategien ersetzen zu können. Deshalb ist für die funktionale Entfaltung der Stimme jemand notwendig, der von außen supervidiert. Nur so wird eine echte Neuprogrammierung des Systems möglich.
AUSDRUCK
Die bekannte Anweisung aus dem Belcanto, „si canta come si parla“, „man singt, wie man spricht“, gibt reichlich Anlass zu Missverständnissen und Fehlinterpretationen. Textverständlichkeit über das gesunde und effiziente Funktionieren der körperlichen Vorgänge beim Singen zu stellen, führt auf Dauer immer zu Stimmschäden. Singen und Sprechen sind zwei verschiedene Funktionsweisen des Körpers, die nicht gleichzeitig ablaufen können. Denn Sprechen ist eine Überdruckfunktion, Singen dagegen eine Unterdruckfunktion. Genauso, wie man nicht gleichzeitig im Vorwärts- und Rückwärtsgang fahren kann, kann man auch nicht gleichzeitig Ausatmungs- und Einatmungsdominanz herstellen. Auch die Vokal- und Konsonantbehandlung beim Sprechen ist elementar unterschiedlich zu der beim Singen. Sowohl die Form des Mund- und Rachenraumes als auch die Muskelgruppen, die diese Form gestalten, unterscheiden sich. Und auch die Bildung der Konsonanten geschieht im schließenden oder im öffnenden Modus, je nachdem, ob der Wunsch nach Textdeutlichkeit oder nach ungestörter Klangbildung das Geschehen organisiert.
Bei Männerstimmen weichen die Abläufe der Vokalartikulation beim Sprechen und Singen nicht so weit voneinander ab wie bei Frauenstimmen. Tiefe Töne liegen größtenteils innerhalb der Formantbereiche, von denen Sprachvokale definiert werden. Die Sprechstimmen von Männern, aber auch von Frauen, bewegen sich fast ausschließlich in dieser Lage. Auch die Druckverhältnisse sind in tiefer Lage denen beim Sprechen ähnlicher, denn auch beim Singen ist in der Tiefe der Luftdruck unter den Stimmlippen etwas höher. So wirkt sich der für die Konsonantbildung nötige Überdruck weniger negativ aus. All das kann gerade tiefe Stimmen dazu verleiten, die Anweisung, zu singen, wie man spricht, wörtlich zu nehmen. Oft wird das auch entsprechend unterrichtet. Dieser Ansatz ist aber für sehr tiefe Lagen ungeeignet, weil der untere Formant einiger Vokale da nicht mehr im Klang enthalten ist. Vor allem aber ist er gefährlich für die Tessitura von Frauenstimmen: In Sopranlage lassen sich viele Sprachvokale nicht mehr vollständig artikulieren, weil deren oberer Formant unterhalb der gesungenen Frequenz liegt. Von seiner Bildung hängt aber die Textverständlichkeit ab. Eine eingeschränkte wörtliche Deutung kommt somit höchstens für die Bariton- und Tenorlage in Betracht, teilweise vielleicht noch für die Altlage. Eine Erklärung für diese Forderung könnte also sein, dass die alten Schriften zur Gesangslehre ausschließlich von Männern stammen.
Ein anderer Erklärungsansatz ist folgender: Jede Form von Kommunikation, nonverbal oder im Zusammenhang mit einer Lautäußerung, löst im Gegenüber unmittelbar eine Reaktion aus. Auch bei allen sozial lebenden Tierarten ist das der Fall. Das ist ein elementares Programm des Zusammenlebens. Es ist sogar unmöglich, nicht zu kommunizieren! Auch die Verweigerung von Kommunikation ist ja eine Botschaft. Jede innere Motivation wird unterbewusst vom Gegenüber erkannt.
Für den Gesang gilt das in besonderem Maße, denn alle körperlichen Parameter dabei sind emotional codiert: Das betrifft die Atmung, speziell die Zwerchfellbewegung, und auch die Mundöffnung sowie alle mimischen Abläufe. Dabei kann nur das ausgedrückt werden, was auf der emotionalen Ebene wirklich passiert. Anders gesagt, die erzeugten Klänge sind authentische Codes für alles, was in der singenden Person passiert, sei es persönliche Verfassung wie beispielsweise Freude oder Angst, der Ausdruck von in der Musik vorgegebenen Gefühlen, oder auch der Wunsch, „sauber“ oder „technisch richtig“ zu singen, sich als etwas Besonderes darzustellen und viele andere unterbewussten Motivationen. Subtilste Stimmungen spiegeln sich in den feinen Abläufen der Klangerzeugung wider, und sie üben direkten Einfluss auf die Emotionen der Zuhörenden aus.
Dieses Instrumentarium zur Verfügung zu haben, ist eine große Chance, wenn die beschriebenen Zusammenhänge nicht bewusst erkannt werden, aber auch eine Gefahr. Deshalb wäre eine sinnvollere Übersetzung von dem, was der Satz „si canta come si parla“ meint, vielleicht: „Man singt, wie man sich ausdrückt“. Ist die Intention, sich auszudrücken, authentisch und emotionsgesteuert, oder ist sie bewusst oder unterbewusst willensgesteuert? Die Gesangsfunktion beruht ausschließlich auf unwillkürlichen, bewusst nicht lenkbaren Funktionen. Nur eine nicht dem bewussten Willen unterliegende Steuerung ist dazu geeignet, ihn zu regulieren und zu optimieren. Welche Art der Steuerung vorliegt, wird im Klang hörbar. So erklärt sich die Assoziation, Singen sei wie Sprechen, von alleine.
BAUCHMUSKULATUR
Die Bauchmuskulatur besteht aus drei Schichten: Außen liegt der schräge Bauchmuskel: Er ist der stärkste Ausatmungsmuskel. Außerdem ist er für die Beugung des Rumpfes zuständig. Er reicht von den Achseln diagonal hinunter bis in die Bauchmitte. Der darunter liegende gerade Bauchmuskel („Sixpack“), fungiert als Stabilisator der Körpervorderseite. Damit ist er der Gegenspieler der Wirbelsäule. Ganz innen liegt der quere Bauchmuskel: Er ist ein differenziert arbeitender Ausatmungsmuskel. Wie die gesamte bewegliche Bauchmuskulatur ist er zusammen mit der Rückenmuskulatur auch für die Körperaufrichtung zuständig.
Daneben gibt es noch weitere Funktionen, die diese Muskelgruppen erfüllen: Wenn die Bauchmuskeln aktiv werden, werden es auch die Kaumuskeln, denn zwischen beiden Muskelgruppen besteht eine Neurokopplung. Mehr noch, die sogenannte „Bauchpresse“ durch die schräge Bauchmuskulatur führt immer zur Schließung der Taschenfalten als Vorbereitung für den Schluckvorgang.
Auf emotionaler Ebene gibt es einen reziproken Zusammenhang: Bei Angst und Stress kontrahiert die Bauchmuskulatur in einem Schutzreflex. Das bedeutet umgekehrt aber auch, dass eine kontrahierte Bauchmuskulatur Gefühle von Angst und Stress triggern kann. Für das Singen ist daher eine Atmung ohne Bauchpresse von höchster Priorität, um die Schließung der Vokaltrakts, zu verhindern, denn er ist ja der Resonanzraum. Ausatmung muss aber erlaubt werden, da ja die Phonation ein Ausatmungsprogramm ist. Wird die Ausatmung behindert, kollabiert in Folge der Schultergürtel und somit die Aufrichtung.
Wesentlich für die sängerische Ausatmung ist daher, dass die Einatmungstendenz regulierend wirksam bleibt. Das bedeutet: Auch während der Ausatmung sollen die schrägen Bauchmuskeln gedehnt und die oberen Rippen erweitert bleiben. Beim Singen ist daher zunächst nur der quere Bauchmuskel aktiv, der wie ein Gürtel die Körpermitte umspannt. Für lange Phrasen schalten sich später die unteren schrägen Bauchmuskeln dazu, jedoch ohne die oberen Rippen zusammenzuziehen. Das ist ein komplexer Vorgang, der über die Stimmlippen organisiert wird: Da sie das Unterdruckventil sind, werden sie durch die Dehnung der schrägen Bauchmuskulatur beim Einatmungsvorgang, aber auch während der Phonation, aktiviert. Das aktive Anspannen der Bauchmuskulatur dagegen aktiviert das Überdruckventil, die Taschenfalten.
Deshalb ist Bauchmuskeltraining als Sport für Sänger ungeeignet, denn es bildet durch die Überbetonung der Ausatmungsmuskeln Synapsen für die Schließaktivität des Vokaltrakts aus.
BELTING
Als Belting („Schmettern“) bezeichnet man eine modifizierte Überdruckfunktion. Durch den höheren Luftdruck unter den Stimmlippen erhöht sich ihre Schließintensität, und der Kehlkopf wird davon etwas nach oben getrieben. Beim Belten hört meistens das Vibrato auf. Denn die selben Muskeln, die beim Singen ohne Vibrato die Stimmlippen von der Seite her etwas zusammenschieben, um die Vibratoschwingung zu drosseln, rufen auch den dichteren Stimmlippenschluss hervor. Das Gaumensegel flacht ab wegen des geringeren Gegenzugs der Einatmungsmuskulatur. Das verkürzt den Vokaltrakt. Die Folge sind breiter geformte Vokale, geringere innere Rundung und ein lächelnder Gesichtsausdruck, anders als beim funktional stimmigen Gesang. Es entsteht eine Brechung, ein „Knick“ in der vertikalen stehenden Klangwelle, die von den horizontal schwingenden Stimmlippen erzeugt wird. Er ruft eine Vibrationswahrnehmung am harten Gaumen hervor, statt im weichen Gaumen, wie es beim klassischen Singen der Fall ist. Der zweite Vokalformant resoniert weiter vorne, nicht senkrecht über den Stimmlippen, sondern schräg in Richtung des harten Gaumens im Mundraum. Das Klangergebnis ist heller und härter, daher die Bezeichnung „Belting“.
Diese Variante ist nicht per se schädlich für das sängerische „Instrument“. Die Belastung ist etwas höher und das Klangergebnis ist nicht so tragfähig wie das Singen mit optimaler Tiefstellung des Kehlkopfs, weil der Vokaltrakt kürzer ist. Deshalb wird die Obertonreihe nicht vollständig gebildet. Das ist der Grund, warum dann ein Mikrofon zur Verstärkung nötig wird, anders als beim klassischen Gesang.
BEWEGUNG
Singen ist permanente komplexe Bewegung im Stehen. Jede Form von Haltung, im Bewegungs- und Atemapparat oder im Kehlkopf, ist dabei hinderlich und störend. Aber auch unkontrollierter, oft unterbewusster Bewegungsdrang ist oft das Resultat von Fixierungen irgendwo im Körper. Er entsteht meist aus dem unwillkürlichen Versuch, die nötige Flexibilität für die Klangerzeugung wieder herzustellen.
Jede Bewegung wird geleitet von der kleinsten, differenziertesten Muskelaktivität. Der stehende Begriff „Fingerspitzengefühl“ macht das sehr deutlich. Das bedeutet für den Vorgang des Singens, dass die unvorstellbar schnell und differenziert schwingenden Stimmlippen das Geschehen im gesamten Körper steuern.
Es ist eine der größten Herausforderungen, unbewusst gewordene Gewohnheiten zu verändern. Das Gehirn regelt so viel wie möglich auf der unbewussten Ebene. Das Leben ist viel zu komplex, und die Möglichkeiten unseres Tagesbewusstseins sind niemals ausreichend, um die unvorstellbare Fülle von körperlichen Bewegungsabläufen bewusst steuern zu können. Im funktionalen Gesangsunterricht geht es deshalb vor allem auch darum, kleinste Muskelbewegungen bewusst wahrnehmen zu lernen. Um etwas an der Gesangsfunktion optimieren zu können, muss man herausfinden, welche Strategien und Gewohnheiten dafür unterbewusst aktiviert werden. Nur durch diese Sensibilisierung können danach auch Veränderungen erkannt werden, und kann eine Neuprogrammierung kann stattfinden. Erst, wenn man zwischen zwei Möglichkeiten die Wahl hat, kann man ein Gespür dafür entwickeln, welche effizienter und natürlicher ist.
Beim Singen weiche, langsame Bewegungen zu machen, ist ein erster Schritt auf dem Weg zu dem Ziel, auf effiziente und natürliche Weise Töne zu erzeugen. Sie erfolgen am besten zuerst entlang der Körperachse und danach zur Seite, so, wie es den Funktionen der Körperausrichtung entspricht. Harte, schnelle Bewegungen dagegen triggern die Gefühlszustände von Angst, Verteidigungsbereitschaft und Flucht. Das erzeugt Schließungen im Körpersystem zum Schutz vor Gefahren und wirkt sich störend auf die Gesangsfunktion aus.
Die sich beständig ändernden Lebensumstände infolge von fortschreitendem Alter und persönlichen Erfahrungen erfordern eine stetige Anpassung der eigenen Strategien im Umgang mit sich selbst. Dieser Umstand erklärt die Notwendigkeit einer immer wieder neuen Feinjustierung der Mikrobewegungen, die die Klangerzeugung ermöglichen und begleiten. Da das alles aber unbewusst abläuft, ist es nur einer beobachtenden Person möglich, diese feinsten Veränderungen zu bemerken. Besonders für professionelle Sängerinnen und Sänger, deren Muskulatur ja hohen Belastungen ausgesetzt ist, empfiehlt sich daher die regelmäßige Supervision durch eine Lehrkraft des Vertrauens. Auch eine physiotherapeutische Begleitung ist empfehlenswert. Das Gleiche gilt natürlich für alle, denen ein lebenslanger, gesunder Umgang mit der eigenen Stimme wichtig ist.
BEWUSSTSEIN
Bewusstsein ist ein Begriff, der auf vielfältige Weise interpretiert werden kann. Die Bewusstseinsform, die das funktionale Singen organisiert, entsteht immer aus der Wahrnehmung dessen, was gerade geschieht. Die Wahrnehmung selbst wird bewusst. Ich möchte das als Wahrnehmungsbewusstsein bezeichnen. In Meditationspraktiken wird es Achtsamkeit genannt.
Im Gegensatz dazu meint Wissens- oder Willensbewusstsein die Kontrolle über das, was geschehen soll. Bewusste Kontrolle ist aber immer grob, denn die unwillkürlichen Abläufe und Reaktionen sind so subtil und vielschichtig, dass das Tagesbewusstsein sie niemals vollständig erfassen kann.
Man kann die unbewussten Funktionen des Körpers nicht bewusst positiv beeinflussen, nur negativ. Jedes kontrollierende Eingreifen stört die empfindlichen Abläufe. Man kann nur urteilsfrei wahrnehmen, erleben, und so aus dem Kampf-, Flucht- oder Erstarrungsmodus in den Ruhe- und Bindungsmodus wechseln. Dann beginnen die Selbstregulationsmechanismen des Körpers, das Geschehen zu heilen, zu differenzieren und zu optimieren. Auf dieser Basis beruhen auch sehr vielen Heilmethoden. Exemplarisch hierfür sei die Feldenkrais- Methode genannt. Dieser kreativ- körperbewusste Ansatz war ein wichtiger Teilaspekt bei der Entwicklung des funktionalen Gesangstrainings durch Eugen Rabine.
Die Wahrnehmungsfähigkeit kann durch diese Achtsamkeit immer weiter verfeinert werden. So wird es mit der Zeit möglich, subtilste Schwingungsempfindungen bewusst zu erkennen. Das ist vergleichbar mit dem Erlernen der Fähigkeit, Blindenschrift zu lesen. Auch das ist für die meisten sehenden Menschen ja kaum vorstellbar. Nach und nach entwickelt sich ein immer sensibleres Gespür für die körperlichen Bedürfnisse und auch eine immer klarere Anbindung an die Intuition.
Der intuitive Ansatz, der vielen Gesangsschulen zugrunde liegt, ist geeignet, diese Zusammenhänge zu unterstützen. Je weniger bewusst gewollt wird, desto dominanter agiert das parasympathische, unwillkürliche Nervensystem, das die Reflexe und Emotionen autonom steuert. Je mehr Wollen im Spiel ist, desto mehr übernimmt das sympathische, willentliche Nervensystem die Kontrolle. Es kann jedoch die höchst komplexen und äußerst differenzierten Vorgänge der Gesangsfunktion weder erkennen noch optimal leiten.
Singen ist eine höchst emotionale menschliche Ausdrucksform. Im Grunde laufen die Steuerungsmechanismen des funktionalen Singens in den selben Hirnregionen ab wie die Emotionen. Die Gefühlsebene wird immer mit angeregt. Für jede Art von Veränderung muss also ein sicherer Rahmen gewährleistet sein, damit es möglich wird, sich darauf einzulassen. Auch sollte die Lehrkraft eine klare Vorstellung davon haben, welche funktionalen Abläufe die Aufrichtung, Atmung, Vokaltraktgestaltung und Stimmfunktion bestimmen und sich bewusst machen, welcher Weg und welche Strategien sowohl auf körperlicher als auch auf psychischer und mentaler Ebene eine positive Veränderung herbeiführen können. So kann sie die Schülerin, den Schüler anleiten, sich dem reflektorischen Geschehen beim Gesang immer mehr anzuvertrauen und störende, meistens unterbewusste Gewohnheiten nach und nach durch sinnvollere Strategien zu ersetzen. Die Rabine-Schule nennt das „mentales Konzept“: Nicht durch kognitives Belehren, sondern durch eine Co-Regulation der Nervensysteme von beiden kann die lehrende Person das an die lernende weitervermitteln.
Das Bewusstsein von der Art und Weise, mit sich selbst umzugehen, erstreckt sich von Körperwahrnehmung über unterbewusste Erwartungen bis hin zum mentalen Umgang mit eigenen Ansprüchen und Kritik an sich selbst. Das Leistungsprinzip, der Wille, etwas herbeizuführen mit all seinen Auswirkungen auf Körper und Psyche steht dabei in diametralem Gegensatz zu dem, was Singen im Kern ausmacht. Was den funktionalen Entfaltungsvorgang fördert, ist zu erlauben statt zu erzwingen, geschehen zu lassen statt zu wollen.
BOCCA RIDENTE
Die Rundung des Lippenringmuskels, die nötig ist, um die Einatmungstendenz für die sängerische Klangerzeugung zu gewährleisten, erlaubt nicht, dass ein lächelnder Gesichtsausdruck beim Singen entstehen kann. Lächeln ist eine vom Zähnefletschen abstammende mimische Aktion. Sie ist dem Beißen verwandt, denn sie wird durch Aktivierung der Lippenheber hervorgerufen. Diese Muskeln gehören wie alle Mimikmuskeln zur schließenden Muskulatur.
Mit dem Belcantobegriff „bocca ridente“ gemeint ist vermutlich ein Phänomen, das nur in großer Tonhöhe auftritt: Ab der Frequenz von a`` ist selbst der Vokal „a“ nicht mehr vollständig artikulierbar. Man hört zwar die Vokalfarbe von „a“, weil der Raum so weit ist, aber real existieren in dieser Lage nur noch die oberen Vokalformanten von „ä“, „e“ und „i“. Alle Vokalfarben schmelzen immer mehr zusammen in Richtung dieser Vokale. Die lautmalenden Begriffe „Quietschen“, „Fiepen“ oder „Piepen“ kommen von der akustischen Assoziation zum Vokal „i“ für Klänge und Geräusche in sehr hoher Tonlage, wie zum Beispiel Vogelgesang.
Für eine funktional gesunde Vokalbildung muss die Oberlippe also etwas Tonus abgeben in Richtung „ä“, später „e“ und „i“. Wahrscheinlich kommt daher die Assoziation zum „lächelnden Mund“. Die Form des Vokaltrakts und des Mundraumes bleibt aber ansonsten genauso wie bei der Phonation für tiefere Frequenzen.
Durch die Erlaubnis der Mimikmuskulatur, sich bei gleichzeitiger Mundöffnung für die Erzeugung von sehr hohen Frequenzen maximal dehnen zu lassen, kann außerdem an der Schädelmuskulatur ein antagonistischer Dehnungsreiz entstehen, im Extremfall auch eine gewisse kinetische Energie, also eine Bereitschaft zu kontrahieren, die dem Impuls ähnelt, den man beim Saugen, aber auch bei freudiger Überraschung und beim sogenannten Schmunzeln verspürt. Vielleicht rührt auch daher die Assoziation zu dem Gefühl der Belustigung. Eine stimmigere Übersetzung des Begriffs „bocca ridente“ wäre daher vielleicht „lachender Mund“.
Die verbreitete mimische Variante, „Bäckchen wie beim Lächeln“ zu bilden, schließt den Raum. Davon wird der Kiefer und damit der Kehlkopf hochgezogen. Das verkürzt den Vokaltrakt und verhindert die wichtige Rundung der Rachenmuskulatur. Diese gesangstechnische Anweisung ist vor allem bei der Lehre der Sitztechnik anzutreffen, weil sie die Bildung des dritten Formanten am harten Gaumen, das sogenannte „in die Maske Singen“, verstärkt.
CANTO FIORITO
Das heißt „verzierter Gesang“, auch bezeichnet als „bocca dei fiori“, „Mund der Blumen“ oder „Mund voller Blumen“, und beschreibt ein Ziel der Belcantoschule des 19. Jahrhunderts: Durch eigenständige Bewegungsmuster der Stimmlippen wird es möglich, damit Triller, Koloraturen, schnelle Läufe und Portamenti auszuführen, ohne dass die Ausatmungsmuskulatur eingreift. Es sind gewissermaßen verschiedene Modi, die zusätzlich zur regelmäßigen Schwingung der Klangerzeugung „vorinstalliert“ sind. Sie werden über das Vibrato organisiert, statt über Luftdruckspitzen durch stoßweise Kontraktionen der Bauchmuskulatur, wie das heute leider allgemein verbreitet ist. Werden sie durch die Selbstregulation der Vocalismuskulatur ausgeführt, entsteht ein vollkommenes, akzentfreies Legatogefühl in der Atemführung. So können die äußerst differenzierten Bewegungen im Kehlkopf ganz ungestört und unbeeinflusst stattfinden. Das Klangergebnis ist ästhetisch, elegant und flüssig.
Ein wunderbares Beispiel dafür, wie mühelos und störungsfrei, quasi wie von selbst dann Koloraturen, Portamenti und Triller gelingen können, ist die Aufnahme der Arie „Casta Diva“ aus der Oper „Norma“ von Vincenzo Bellini, gesungen von Renee Fleming: https://youtu.be/wB3boBn_CHM?si=nJ6YDBm9abFnK4OX
CANTO SUL FIATO
Das bedeutet „Gesang auf dem Atem“. Beschrieben wird die Wahrnehmung, dass das durch große, vollständige Einatmung entstandene Körpergefühl während des Singens durchgehend erhalten bleibt. Ein Gefühl des Ausatmens im Sinne von Verlust von Atemluft tritt zu keiner Zeit ein. Die Dominanz der Einatmungsmuskulatur und damit das Gefühl, immer genug Luft zu haben, bleibt beim Singen bestehen.
Die Ausdrucksweise „auf dem Zwerchfell singen“ bedeutet dasselbe, nämlich, dass das Zwerchfell während der Tonerzeugung überwiegend kontrahiert bleibt. Nur die Anspannung der unteren seitlichen Zwerchfellanteile lässt nach, damit überhaupt Luft nach außen fließen kann.
Man könnte also ergänzend hinzufügen: „Auf dem angespannten Zwerchfell singen“.
CHIAROSCURO
Das ist eine Beschreibung des Stimmklangs, der bei optimal geöffnetem Vokaltrakt entsteht: : „Helldunkel“, beide Klangfarben gleichzeitig. Die tiefen Frequenzen direkt über dem Kehlkopf werden durch die besondere, „offene“ Zungenstellung ohne Dämpfung hörbar. Durch den tiefstehenden Kehlkopf und die dadurch hervorgerufene Hebung des Gaumensegels verlängert sich der Vokaltrakt. So kann der Grundton sehr viele Obertöne bilden, bis hin zu den Sängerformanten. Also sind zugleich sehr hohe Frequenzen im Klang enthalten.
COLPO DI PETTO
Gegen Ende einer vollständigen sängerischen Einatmung kontrahiert der große Brustmuskel und erweitert den Brustkorb horizontal nach vorne. Im Augenblick des Einsatzes bewirkt die impulshafte Kontraktion des queren Bauchmuskels eine Erhöhung des Innendrucks in der vorderen Brustregion. Daraus resultiert das Gefühl eines „Schlags (von innen) gegen die Brust“. Bleiben die Rippen dabei stabil und erweitert, ist eine Verstärkung der Einatemtendenz die Folge, weil die Einatmungsmuskeln antagonistisch auf diesen Ausatmungsreiz reagieren. Eine sprachliche Entsprechung im Deutschen ist der Ausdruck „sich in die Brust werfen“, was eine selbst-bewusste, aufrechte und erweiterte Körperhaltung beschreibt. Das ist genau die Position, die für das Singen nötig und typisch ist.
Eugen Rabine nannte diese Erweiterung des Brustkorbs von hinten nach vorne „sagittale Erweiterung“. Das Bild bezieht sich auf das Spannen eines Bogens, um einen Pfeil abzuschießen. Es ist die letzte Aktivität der einatmenden Muskulatur vor dem Einsatz.
Das Gefühl ähnelt dem beim Eruktieren, umgangssprachlich Aufstoßen, einem Vorgang, der aus anderen biologischen Gründen ebenfalls eine Verstärkung des Unterdrucks im oberen Brustbereich hervorrufen soll. Es ist ja üblich, das durch einen leichten Schlag auf das Brustbein zu unterstützen, oder wenigstens durch aktive muskuläre Erweiterung des oberen Brustkorbs. Vielleicht stammt der Begriff auch von einer ähnlichen Vorgehensweise, um das „Inalare la voce“ auszulösen. Auch beim Würgereflex ist eine Hebung des vorderen Brustraumes in die dafür nötige Erweiterungsbewegung impliziert.
CONSTRICTOREN
Die Constrictoren, (Abb. 5) die Würgemuskeln, sind übereinander geschichtete Muskelplatten von etwa einem Millimeter Dicke. Beim Schluckvorgang ziehen sie sich zusammen und verengen so die Speiseröhre, um die Nahrung nach unten in den Magen zu befördern.
Der obere Constrictor liegt „hinter der Nase“. Er beeinflusst die Reaktion des weichen Gaumens. Durch seine Kontraktion wird beim Schluckreflex die Nahrung in Richtung Speiseröhre geschoben. Der mittlere Constrictor reicht bis zum Zungenbein. Er hebt den Kehlkopf beim Schluckreflex, so dass sich der Kehldeckel über der Luftröhre schließen kann. Er beeinflusst auch die entsprechende Lippenreaktion. Der untere Constrictor reicht von der Mitte des mittleren Constrictors bis zu den Stimmlippen. Kontrahiert er, wird die Nahrung in die Speiseröhre gedrückt. Er umfasst den Kehlkopf und beeinflusst die Kiefer- und Zungenreaktion. Alle drei sind über Ligamente verbunden und bilden ein Kontinuum von unten nach oben, Faser für Faser.
Die Rundung der Rachenrückwand ist die komplementäre Bewegung zum Schlucken. Im Ausatmungsmodus findet sie nur beim Würgereflex statt, im Einatmungsmodus beim Saugreflex, um einen Unterdruck herzustellen. Sie erfolgt daher von unten nach oben: Der untere Constrictor, der größte, rundet zuerst, der mittlere, der schmalste, wird nur gedehnt und rundet nicht. Der obere rundet wieder. Für den Gesang ist es wichtig zu wissen, dass der mittlere Constrictor den größten Anteil an der gemeinsamen Schutzfunktion hat. Deshalb wird seine Dehnung oft unterbewusst vermieden. Durch diese Schutzhaltung kann dann aber der Kehlkopf nicht vollständig abgesenkt werden. Da die Constrictoren von unten nach oben runden, gestaltet sich auch beim Singen der Vokaltrakt von unten nach oben. Der obere Constrictor kann nicht ohne den unteren runden. Die zu singende Tonhöhe hat auf diesen Zusammenhang keinen Einfluss.
Infolge der Rundungsaktivität wird der Vokaltrakt lang, schmal und schlank. Durch das Artikulieren der Vokalreihe von „u-o-a“, das der natürlichen Öffnungsbewegung als Vorbereitung für das Trinken entspricht, erlaubt man den Constrictoren, zu reagieren. Die Dehnung der Wangen durch Kontraktion des Lippenringmuskels stellt die Verbindung zu ihnen her und unterstützt die Rundung. Alle Bewegungen der Lippen haben aus evolutionären Gründen nämlich ebenfalls immer Einfluss auf die Schlundmuskeln. Die Aktivität der gerundeten Rachenmuskulatur kann dabei deutlich spürbar werden. Caruso nannte das „mit dem Nacken singen“ oder auch „tief hinten im Halse ansetzen“.
CUPERTO / LA CUPULA
Dieser Belcanto-Ausdruck beschreibt die Wahrnehmung einer Wölbung des weichen Gaumens, die von der Rundungsaktivität der Schlundmuskeln ausgeht. Wenn sie aktiv werden, muss die Zunge reagieren: Sie wird schmaler und tonisierter, und der Zungenrücken hebt sich wie beim Saugvorgang.
Bei schmalen Vokalen („u, o, ü, ö“) hat der obere Constrictor eine andere Aktivität als bei breiten („a, ä, e, i“). Dadurch wölbt sich das Gaumensegel mehr nach oben. Der Gaumenheber ist ein Antagonist zu den Kehlkopfsenkern. Das bedeutet, dass die kuppelförmige Hebung des weichen Gaumens die Kehlkopfsenkung unterstützt. Ein „runder“ Stimmklang ist die akustische Folge.
In höherer Lage spürt man diese Kuppelform deutlicher. Die Resonanz der hohen Frequenzen wird im Bereich des weichen Gaumens besonders verstärkt und ist deshalb sehr gut wahrnehmbar. Das liegt an der Form des Resonators.
Lässt der Tonus im oberen Constrictor nach, schließt der Resonator. Dadurch wird das Gaumensegel flach und der Kehlkopf steigt. Dann klingt auch die Stimme „flach“.
Gelingt es nicht, den oberen Constrictor differenziert zu runden, wird der obere Vokaltrakt diagonal zusammengeklemmt: Die Stimme klingt dann „spitz“.
BELCANTOBEGRIFFE UND FACHAUSDRÜCKE FUNKTIONAL ERKLÄRT D - I
DECKEN
Das ist die etwas unglücklich gewählte Übersetzung des Belcanto-Ausdrucks „cuperto“. Der Klang wird nicht abgedeckt und gedämpft durch die kuppelförmige Rundung des Vokaltrakts. Im Gegenteil: Ab dem zweiten Drittel der Kieferöffnung schließt das Gaumensegel reflektorisch. So entsteht ein oben geschlossenes „Gedackt“-Instrument. Das bedeutet, die Schallwellen werden auf die Schallquelle zurückreflektiert. Im Fall der Stimmlippen führt das zu einer erhöhten Bewegungsbereitschaft. Da sie ja primär ein Schutzorgan sind, reagieren sie mit Schließtendenz auf jede Luftbewegung und erzeugen durch diese Aktivierung intensivere Schwingungen. Dadurch bildet sich das Phänomen der Rückkopplung.
Das ist einer der Hauptgründe, warum die menschliche Stimme so unglaublich tragfähig ist, obwohl der Resonator bei optimaler Tiefstellung des Kehlkopfs höchstens etwa fünfzehn Zentimeter lang ist.
DEHNUNG
Dehnung ist nach der funktionalen Definition die Erlaubnis eines angespannten Muskels, die Spannung zu lösen, und sich im Anschluss dehnen zu lassen. Ohne diese Erlaubnis ist eine Dehnung von antagonistischer Muskulatur nicht möglich. Denn bei einem Agonist-Antagonist-Muskelpaar ist immer der kontrahierte Muskel in seiner Kraft. Deshalb muss das Dehnungsgefühl, die „exzentrische Muskelarbeit“, die Bewegung leiten. Durch das gedehnt Werden entspannt sich der angespannte Muskel. Das muss aber nicht zwangsläufig so sein. Er kann auch gegen die ihn dehnenden Kräfte eine Restkontraktion beibehalten. Der Fachausdruck dafür ist „exzentrische Kontraktion“: Der Muskel wird aktiv gedehnt, während er gegen einen größeren Widerstand arbeitet. Ein Muskel, der gedehnt wird, kann sogar leichter kontrahieren als ein entspannter. Umgekehrt ist nur ein kontrahierender Muskel zu differenzierter Arbeit fähig. Beispiele für exzentrische Kontraktion sind das kontrollierte Absenken eines Gewichts, oder auch das Hinsetzen aus dem Stand. Diese Form von muskulärer Aktivität trainiert beide Muskelgruppen auf effektive Weise: Exzentrische, Dehnung erlaubende Muskelarbeit trainiert die Muskulatur um bis zu 60% mehr als konzentrische, kontrahierende.
Im Dehnungsprogramm arbeiten die selben Agonist-Antagonist-Muskelpaare wie im Kontraktionsprogramm, nur mit vertauschter Dominanz und entgegengesetzter Atemtendenz: Etwas Wegschieben und sich nach etwas Ausstrecken sind Bewegungen in die gleiche Richtung! Allerdings geschieht das Wegschieben in der Ausatmungs- /Überdruckfunktion, „weg von“, und das Ausstrecken nach etwas in der Einatmungs- /Unterdruckfunktion, „hin zu“.
Jede Dauerkontraktion von Muskeln verhindert Dehnung. Beim Versuch, den Muskel zu dehnen, entstehen Widerstandszuckungen. Ein Ziel des funktionalen Stimmtrainings ist auch, unbewusst gewordene Dauerkontraktionen wieder bewusst zu machen, um sie auflösen zu können. So wird eine bessere Funktionalität der arbeitenden Muskulatur erreicht.
Beim Singen erlaubt der Vocalismuskel für Tonerhöhung, sich durch den Ring- Schildknorpelmuskel, den einzigen äußeren Kehlkopfmuskel schräg nach vorne unten dehnen zu lassen. Er wird davon länger und dünner. Das hat zur Folge, dass die Frequenz der Schwingung sich erhöht und der Ton daraufhin höher klingt. Die starke Dehnung bei sehr hohen Tönen ist für die Muskulatur zunächst ungewohnt, so dass davon der Gähnreflex getriggert werden kann. Gähnen ist aber ein anderes neuronales Programm als Singen. Für tiefere Töne verläuft der Prozess in umgekehrter Richtung: Der Stimmmuskel zieht sich zusammen und der äußere Kehlkopfmuskel lässt sich dehnen. Die Schwingung wird dabei langsamer, weil die Stimmlippen kürzer und dicker werden.
Bei der exzentrischen Kontraktion der Aufrichtungs- und Atemmuskeln, dem Räkeln, schließen die Stimmlippen reflektorisch. Dadurch wird ein Sog in der Lunge erzeugt, dem durch den Stimmlippenschluss nicht nachgegeben werden kann. So wird die Dehnung noch wesentlich effektiver. Dieser Reflex ist bekanntermaßen mit einem intensiven Wohlgefühl verbunden. Ein entsprechendes Gefühl stellt sich durch die permanente Dehnung der kontrahierenden Ausatmungsmuskeln aufgrund der Einatmungsdominanz auch beim funktionalen Singen ein. Denn Singen geschieht ja während der Ausatmung. Das ist vielleicht einer der Gründe, warum Singen die emotionale Stimmung hebt.
DEHNUNGSFUNKTION
So wird in der funktionalen Terminologie der Zustand bezeichnet, in dem die Stimmlippen gedehnt sind. In dieser Konstellation schwingt hauptsächlich die sie umhüllende Schleimhaut, das Ligament. Der Anteil an schwingenden Muskelfasern des Stimmmuskels nimmt mit zunehmender Tonhöhe sukzessive ab. Etwa bei fis`` ist keine Muskelmasse mehr an der Schwingung beteiligt. Diesen Zustand beschreibt auch der Ausdruck „Randschwingung“.
Der Durchmesser des Vokaltrakts wird in Folge der Dehnung größer, weil dabei der Vocalis nach vorne verlängert wird. Gleichzeitig verlängert und verschmälert sich die Zunge, und der Mund öffnet sich weiter. Ohne entsprechende Mundöffnung ist es also nicht möglich, sehr hohe Töne funktional optimal zu singen.
Leider gibt es zwei Möglichkeiten, die Stimmlippen zu dehnen: Nach unten vorne, wie eben beschrieben, oder mit Hilfe der Rachenmuskulatur nach hinten oben, wobei die Zunge steif wird, um dagegenzuhalten. Das bewirkt dann ein Steigen des Kehlkopfs und dadurch eine Verkürzung des Vokaltrakts mit allen negativen Folgen für die Resonanz. Auf diese Art und Weise werden die Stimmlippen beim Niesreflex gedehnt. Dadurch entsteht die dafür typische hohe Stimmgebung.
DOPPELVENTILFUNKTION
Zum Grundverständnis der Stimmfunktion gehört das Wissen über die Doppelventilfunktion des Kehlkopfs, in dem die Stimmlippen als unteres Einatmungs- bzw. Unterdruckventil, und die darüber liegenden Taschenfalten als Ausatmungs- bzw. Überdruckventil organisiert sind. Dieses doppelte Ventilsystem liegt in der Evolutionsgeschichte begründet und entwickelte sich aufgrund unterschiedlicher Lebensbedingungen und Anforderungen an die Atmung.
Der Kehlkopf in seiner Hauptfunktion ist dem Atemapparat zugehörig. Die primäre Funktion der Stimmlippen als Teil des Luftweges ist es, für die Atmung zu öffnen oder auch zu schließen, etwa um die Lungen vor Fremdkörpern zu schützen. Eine sekundäre Funktion der Stimmlippen ist dann die Phonation.
Im Zusammenhang mit der Atmungsmuskulatur ermöglicht die Kehlkopffunktion Luftdruckänderungen in der Lunge bzw. Druckänderungen im Brustkorb. Ein Überdruck wird bei Schließung der Taschenfalten als Überdruckventil produziert. Sie besitzen in sich nur wenige Muskelfasern und werden deshalb in ihrer Schließstellung durch Hilfsmuskeln des Rachenraumes und auch weiter durch kompensatorische Aktivitäten der Schließung der Stimmlippen (Masseankopplung) und der Aktivität der Ausatmungsmuskeln unterstützt. Zweck der Überdruckfunktion ist die Kraftanwendung nach außen, vom Körper weg, wie Heben, Schieben, Defäkation, Gebären und Ähnliches. Diese Aktivitäten verlangen eine erhöhte kompensatorische Spannung (Schließung) im Rachenraum und sind für die Phonation nicht günstig.
Ein Unterdruck wird bei der Schließung der Stimmlippen als Unterdruckventil unter Beibehaltung der Rachenraumöffnung durch die ständige Aktivität der Einatmungsmuskeln produziert. Zweck der Unterdruckfunktion ist es, eine Kraftanwendung in Richtung des eigenen Körpers zu produzieren, also sich selbst zu heben, etwa beim Klimmzug oder beim Schwimmen, wobei bei extremer Kraftanwendung die Taschenfalten ebenfalls schließen durch die zusätzliche Aktivierung der schrägen Bauchmuskulatur zur Stabilisierung des Rumpfes. Auch unterstützen bzw. innervieren alle Aktivitäten der Unterdruckventilfunktion die benötigten inneren Kehlkopfmuskeln für eine effiziente Stimmproduktion. Im Moment des Einsatzes wird die Unterdruckfunktion aktiviert und bis zum Ende der Phonation immer weiter erhöht. Deshalb haben die Atmungs- und Bewegungsmuskulatur und sogar der gesamte Körper einen mechanischen wie auch neurologischen reflexmäßigen Einfluss auf die Kehlkopffunktion. Sie wird stimuliert durch Balance, und umgekehrt stimuliert die Unterdruckfunktion das Gleichgewichtsempfinden. Die Doppelventilfunktion ist daher in permanenter alltäglicher Aktivität.
Die menschliche Stimme ist das Ergebnis körperlicher Funktionen, also von Muskelaktivitäten, die teils bewusst, teils unbewusst durch Leitvorstellungen, also ein mentales Konzept gesteuert werden. Die optimale ungestörte Funktion der Stimmlippen ist eine Voraussetzung für die völlige Entfaltung der Stimme beim Kunstgesang, wobei alle Parameter der Stimme, wie z. B. maximaler Tonumfang, Lautstärkeumfang, Klang- und Vokalfarbänderungen, Konsonantartikulation, Genauigkeit, Geschwindigkeit und emotionaler Kommunikationsumfang gewährleistet werden. (Quelle: Rabine-Institut)
DYNAMIK / LAUTSTÄRKE
Jede Stimme hat das Potenzial für Lautstärke. Gesteuert wird sie im Zusammenspiel von Stimmlippen und Raum. Die Lautstärkeregelung erfolgt ähnlich wie beim Instrument: Der Resonanzkörper bleibt erhalten, Veränderungen erfolgen da, wo der Klang erzeugt wird. Im Unterschied zum Instrument werden sie bei der Phonation von den Stimmlippen selbst reguliert. Sie werden nicht durch Luftdruck forciert, wie das beim Blasinstrument, aber auch beim Schreien der Fall ist.
Die Dicke des Vocalismuskels ist ausschlaggebend für den Grad der Lautstärke, die erzeugt werden kann. Tiefe Töne sind also akustisch immer lauter als hohe. Je mehr Masse, Kontraktion und Tonus der Vocalis hat, desto größer ist die Lautstärke. Deshalb sind Frauenstimmen immer leiser als Männerstimmen. Dass ihr Klang oft als dominierend wahrgenommen wird, liegt daran, dass das menschliche Ohr für hohe Frequenzen viel empfindlicher ist als für tiefe. Dieses Phänomen heißt „Lautheit“.
Für ein Anwachsen der Lautstärke kontrahiert der Vocalis, und der äußere Kehlkopfmuskel hält dagegen. Gibt er nach, verändert sich die Tonhöhe nach unten. Das ist ein Grund, warum untrainierte schwere Stimmen eher zum zu tief Singen neigen als leichte. Ihre Stimmlippenmuskulatur ist stärker, und die äußere Kehlkopfmuskulatur kann dem Zug manchmal nicht ganz standhalten.
Häufig wird Zungendruck hilfsweise für ein Anwachsen der Lautstärke eingesetzt: Um den Luftdruck unter den Stimmlippen zu erhöhen und so einen Massezuwachs zu erzwingen, wird mit der Zunge der Resonator verengt. Dadurch wird die Fließgeschwindigkeit der Atemluft gedrosselt, die ausströmende Luft „staut sich“. Der Vocalis reagiert auf den Druck und schaltet bei der Tonerzeugung mehr Muskelfasern dazu. Dadurch wird der Klang lauter, aber nach dem Überdruckprinzip, das beim Schreien eingesetzt wird.
Das Konzept des funktionalen Belcantogesangs für Lautstärkeregelung dagegen beruht auf dem Wunsch, anders gesagt, der mentalen Vorstellung für eine bestimmte Lautstärke des angestrebten Klanges. Darauf koppelt der Stimmmuskel auf einen Befehl aus dem Gehirn die entsprechende Anzahl von Fasern an. Das ist möglich, weil die dominante Einatmungstendenz den subglottalen Luftdruck äußerst fein dosieren kann. Die Grundempfindung für die Stimme bleibt dabei gleich, der Raum bleibt konstant. Am Anfang des Unterrichts steht daher immer eine möglichst optimale Klangerzeugung im Vordergrund, danach folgt erst die Lautstärkeregelung durch Wahrnehmungsdifferenzierung. Man muss erst eine bestimmte Klangvorstellung entwickeln, damit man sie sich vorstellen kann. Das Konzept ist also umgekehrt: Mehr schwingende Masse fordert als Folge mehr Luftfluss an. Entsprechendes gilt für leise Dynamik: Weniger Masse braucht weniger Luftfluss. Je weniger Druck unter den Stimmlippen herrscht, desto geringer wird dann auch der Stimmbandschluss.
In hoher Lage verändert sich hauptsächlich das Maß an Lautheit: Durch mehr oder weniger starken Stimmlippenschluss werden unterschiedliche Teilspektren im Gesamtklang durch die Modifikation der Vokaltraktform verstärkt. Das erzeugt die subjektive Empfindung verschiedener Lautstärkegrade.
Ein weiterer wichtiger Parameter für Lautstärke ist die Resonanz. Je mehr Raum für die schwingende Luftsäule zur Verfügung gestellt wird, desto mehr Klangvolumen kann sich entwickeln.
Auch für crescendo geht beim funktionalen Konzept der Befehl des Gehirns direkt an die Stimmlippen statt an die Ausatmungsmuskulatur. Daraufhin gibt der Vokaltrakt nach. Die Weite des Vokaltrakts ist jedoch einer der Faktoren für die Definition von Vokalfarbe. Wird die Dynamik von den Stimmlippen selbst geregelt, tendiert daher bei gleicher Lautstärke nach oben jeder Vokal zum nächst offeneren („u“ zu „o“), und nach unten zum nächst geschlosseneren („o“ zu „u“). So wird die optimale Resonanz des Vokaltrakts gewährleistet. Es ist ein Lernprozess, das zu erlauben. Die Vokalfarbe festzuhalten, wie es leider immer wieder gefordert wird, führt zu Überdruck und Störungen im Schwingungsablauf. Wird nicht erlaubt, dass der untere und in der Folge der obere Vokaltraktdurchmesser sich vergrößert und die Vokalfarbe sich dadurch zum nächst offeneren Vokal ändert, wird ein funktional gesundes crescendo unmöglich. Der Befehl zur Klangverstärkung triggert dann erhöhten Luftdruck, eine Deformation des „Instruments“ mit der Zunge und die Abflachung der Rachenrückwand. Dadurch werden die akustischen Verhältnisse im Vokaltrakt ungünstiger. Da sich das aber negativ auf die Lautstärke auswirkt, ist dieser Weg kontraproduktiv und kann in einer sängerischen Sackgasse enden.
Decrescendo bedeutet kontrollierte Masseabgabe. Das Gefühl für Masse wird beibehalten und der Körper organisiert sich in Bezug zur Masseabgabe neu. Die Erweiterung des Brustkorbs und die Stabilität in Brustkorb und Rücken nimmt zu.
Gleichbleibende Lautstärke ist real kaum zu verwirklichen, denn die Vokale haben von Natur aus verschiedene Lautstärken. „U-o-a“ ergibt ein crescendo: Der Vokal „u“ hat am wenigsten schwingende Muskelmasse, der Vokal „a“ am meisten. Dabei leitet die Qualität der Stimmlippenschwingung die Veränderung in der Dynamik. Vokaltrakt und Luftdruck ordnen sich unter.
Der Mund- und Rachenraum ist mit sehr sensiblen Nerven ausgestattet. Deshalb entsteht durch die erzeugten Luftschwingungen immer auch eine taktile Vibrationswahrnehmung. Ein piano gesungener Ton fühlt sich dabei „höher“ an als ein Ton auf der selben Tonhöhe im forte. Das liegt daran, dass durch die geringere schwingende Muskelmasse weniger tiefe Frequenzen erzeugt werden. So werden die hohen Schwingungen, die wegen der Form des Vokaltrakts im Kopf resonieren, stärker wahrgenommen.
Es braucht Zeit, Geduld und vor allem Feingefühl, das Programm für die Lautstärkeregelung von der gewohnten Überdruckfunktion des Sprechens, Rufens und Schreiens auf die Unterdruckfunktion des Singens umzustellen, zumal wir ja im Alltag die anderen Lautäußerungen beibehalten. Das ist auch gut und richtig so, aber die Unterscheidung zwischen beiden Programmen und die dem jeweiligen Vorhaben entsprechende Wahl muss gelernt und eingeübt werden. Auf diese Weise wird nach und nach die Wahrnehmung neu justiert.
EINSATZ
Der Stimmensatz ist ein Reflex. Er findet im Millisekundenbereich statt und ist deshalb bewusst nicht analysierbar. Am Ende einer sängerischen Einatmung von mindestens 50% Lungenvolumen schließen reflektorisch die Stimmlippen. Dieser Stimmlippenschluss erfolgt auch bei anderen reflexgeleiteten körperlichen Aktionen, so etwa beim Räkeln oder Niesen. Er ist auch bei ihnen verbunden mit einem Wohlgefühl von Dehnungserlaubnis, allerdings mit einem anderen neurologischen Programm wegen der unterschiedlichen Zielreaktion.
Beim Gesangsreflex löst die Wahrnehmung des einfließenden Luftstroms einen neurologischen Reiz aus. Dadurch öffnen im letzten Drittel der Einatmung die Stimmlippen noch weiter und schließen dann in Tiefststellung des Kehlkopfs innerhalb von Millisekunden. Am Höhepunkt des Auseinanderdriftens der Aryknorpel erfolgt die Schließung. Das Gehirn unterbricht sie und wandelt sie in regelmäßige Schwingungen um. Die Energie für die Tonerzeugung ist also die gleiche wie für die Öffnung. Der Übergang zur Schwingung ist so schnell, dass er bewusst niemals zu kontrollieren ist. Die ersten Schwingungen erfolgen noch ohne Luftfluss.
Die Mundöffnung für die Phonation hat nach funktionaler Zielsetzung immer die gleich ovale Form, trotzdem wird der zu singende Vokal zeitlich zusammen mit dem Einsatz geplant. Das ist möglich, weil Vokalklänge als Muster im Gehirn abrufbar sind, ohne dass bewusste Muskeleinstellungen für ihre Bildung nötig sind. Auch beim Sprechen ist das nicht anders: Man wünscht, einen Vokal zu artikulieren und die Umsetzung erfolgt ohne bewusstes Zutun. Allerdings werden sängerische Vokale anders gebildet als Sprachvokale. Diese Muster müssen zuerst erlernt werden, bevor sie angesteuert werden können. Auch das ist ein Ziel des funktionalen Unterrichts.
Der berühmt gewordene Begriff „coup de glotte“ von Manuel Garcia, leider falsch übersetzt mit „Glottisschlag“, beschreibt treffend die Geschwindigkeit und Unplanbarkeit, mit der der Stimmeinsatz geschieht. Die Bedeutung, die dem Begriff „coup“ heute zugeschrieben wird, nämlich „überraschende, gelungene Aktion“, wäre wesentlich treffender. Ein sogenannter „weicher Einsatz“, bei dem vor der Phonation Luft entweicht, ist unvereinbar mit diesem reflektorischen Geschehen.
Der Stimmeinsatz erfolgt unvorstellbar schnell, aber rhythmisch, wie sehr viele Vorgänge im Körper. Rhythmus in Atmung und Bewegung wirkt daher unterstützend auf seine Innervierung. Gleichzeitig ist er der Beginn einer Vibratoschwingung, die ja auch rhythmisch abläuft. Er ist unabhängig von Vokalfarbe und Tonhöhenregelung.
Nur im Moment des Einsatzes ist die Raumgestaltung gemäß der Formantbereiche für das System genau erkennbar. Während der Klangerzeugung selbst sind die Schwingungswahrnehmungen zu vielfältig dafür. Eine Vorstellung von der Form des Resonators zu gewinnen, ist aber sehr wichtig für die Neujustierung der Gesangsfunktion im Unterschied zur Sprachfunktion. Ein günstiges Training dafür stellt das „staccato“ dar, denn es besteht praktisch nur aus Stimmeinsätzen.
Im Augenblick des Einsatzes wird die Unterdruckfunktion sowohl in der Einatmungsmuskulatur als auch in der Ausatmungsmuskulatur aktiv. Der Oberbauch beginnt, nach innen oben zu wandern. Die muskuläre Richtung der Einatmung wird dabei beibehalten. Dabei gilt: Je leiser der Klang beim Einsatz ist, desto feiner ist die Luftdruckregelung („Minimaltoneinsatz“).
Das Ende der Einatmung ist der Einsatz, das Ende der Tonschwingung ist der Beginn der nächsten Einatmung. Bei mehreren Phrasen erfolgt am Ort des Absatzes, also auf Stimmlippenebene, der nächste Einsatz.
EINSCHWINGVORGANG
Der „Einschwingvorgang“ ist die Aktivierung der Masseschwingung von außen oben (Ligament) nach innen unten („Bauch“ der Stimmmuskeln). Das geschieht nach dem Einsatz.
EINSINGEN
Eine Vorbereitung auf ein reflektorisches Geschehen ist eigentlich nicht nötig. Es geht beim Einsingen also um den nötigen Körpertonus und die mentale Einstellung auf die gewünschte Körperfunktion.
Der Wunsch zu singen schafft im Gegensatz zu vertrauten Tätigkeiten bei weniger geübten Menschen aber nicht automatisch günstige Voraussetzungen dazu. Ohne, dass wir es merken, stellt sich der Körper auf Alltagshandlungen wie zum Beispiel Treppensteigen „automatisch“ auf das entsprechend Vorhaben ein. Die Vorbereitung zum Singen sollte daher bewusst vollzogen werden. Der Zweck des Einsingens ist also die Umstellung von der Alltagsperson zur Sängerin, zum Sänger.
Musik und Tanz erhöhen den Körpertonus sowie Herzfrequenz und Adrenalinspiegel. Deshalb können diese „Hilfsmittel“ für die gewünschte Änderung des körperlichen Aggregatzustandes genutzt werden. Es ist durchaus sinnvoll, sich mit Hilfe von Musik und Bewegung auf eine funktional sinnvolle Stimmbehandlung einzustimmen. Mit der ersten sängerischen Einatmung wird das „Instrument“ entfaltet und die Schwingung neuronal ausgelöst. Durch das Singen selbst kann die Funktion sich selbstständig weiter optimieren, denn die Phonation wird dominant vom Vocalismuskel gesteuert. Er fordert dabei die optimalen Bedingungen für die sängerische Tonerzeugung an, und das System reagiert und stellt sie bereit. Die Aufgabe von Einsingsequenzen besteht also darin, die Aufmerksamkeit gezielt und differenziert darauf zu richten, welche Voraussetzungen in Aufrichtung und Dehnungsbereitschaft erfüllt werden müssen, damit das geschehen kann.
EMOTION
Es gibt keine Bewegung ohne Emotion. Das sagt schon der Name. Singen ist Gefühlstransport. Die Primärfunktion des Singens ist ja Ausdruck und Auslösen von Freude, Beglücktsein und Angstfreiheit. Es ist eine emotionale Aktion von höchster Wirksamkeit. Es synchronisiert die Gehirnwellenmuster auf eine intrinsische neuronale Frequenz, in der die Aktivität der Betawellen reduziert und die der Alphawellen verstärkt wird. Das fördert psychische Entspannung und reduziert Stress. Es entsteht ein Zustand von Ruhe, Aufmerksamkeit und Frieden. Dabei werden „Glückshormone“ wie Serotonin, Noradrenalin und Oxytocin ausgeschüttet, vor allem aber Beta-Endorphin. Das ist das Hormon, das auch für das Glücksgefühl nach dem Sport sorgt, im Fall von Singen jedoch ohne Suchtgefahr. Stresshormone wie Cortisol werden gleichzeitig abgebaut. Neue Forschungen zeigen, dass Singen eine Art von Stressbewältigung ist, ähnlich wie Autogenes Training. Der Musikpsychologe Karl Adamek hat diesen Effekt in mehreren Studien beobachtet. Sein Fazit lautet: „Durch Singen bewältigen viele Menschen Angst, Trauer und Stress.“ Der Neurobiologe Gerald Hüther ist überzeugt, dass Singen dazu beitragen kann, Selbstheilungskräfte im Körper zu aktivieren. Es sei außerdem ein gutes Mittel gegen Angst und Stress, weil man nicht gleichzeitig singen und Angst haben kann. Die Amygdala spielt eine entscheidende Rolle bei der Wahrnehmung von und der Reaktion auf Musik. Sie reagiert sehr empfindlich auf komplexe rhythmische Muster. Sie können physiologischen Reaktionen auslösen, die entweder mit positiven oder mit negativen Emotionen verbunden sind.
Im Fall von gemeinsamem Singen, zum Beispiel im Chor, kommt noch die soziale Komponente des Gefühls der Zugehörigkeit zu einer Gruppe hinzu. Neben der Synchronisierung der Atmung werden dabei sogar die Herzfrequenzen auf natürliche Weise mit dem Takt der Musik angeglichen und stabilisiert.
Dieser Zustand führt zu Öffnung, Weite und dadurch Sog. Das wiederum bewirkt eine Optimierung des Gesangreflexes, das Loslassen von Schutzspannungen, „Ent-Faltung“, „Ent-Wicklung“, vom Ursprung her auch Hinwendungsfähigkeit der Person zu anderen Personen. Mit anderen Worten, das bekannte Zitat „Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder“. aus dem im Jahr 1804 veröffentlichten Gedicht von Gottfried Seume ist heute wissenschaftlich belegbar.
Genuss ist allgemein das Signal fürs Gehirn, etwas zu speichern, um es wiederholen zu können. Das bedeutet, diese funktional sinnvollen Vorgänge werden automatisch gemerkt und gelernt.
Angst oder Wut dagegen lösen Verengung und Schließung aus, und dadurch Überdruck: Eine ablehnende Haltung aktiviert die Taschenfalten, die Stimme wird „eng“ und „scharf“. Wut singen, wütend singen ist aus diesem Grund funktional nicht möglich. Im Gegensatz dazu kann man durchaus wütend sprechen, denn Sprechen ist eine Überdruckfunktion, genauso wie Schreien. Das bedeutet aber auch: Jede innere Abwehrhaltung macht Singen, und vor allem singen Lernen unmöglich. Dieser Umstand ist auch für die Interpretation von gesungenem Text von großer Bedeutung. Für das Gelingen einer sängerischen Entwicklung ist es von höchster Wichtigkeit, dass das emotionale Umfeld sicher, positiv und unterstützend ist.
Die gesamte Muskulatur der Mimik, der Augen und des Nackens ist mit emotionalen Mustern verknüpft. Sie ist das menschliche Kommunikationszentrum schlechthin. Jede Änderung in der Mimikmuskulatur bewirkt eine emotionale Reaktion bei einem selbst und beim Gegenüber. Der Modus, in dem sie beim Singen benutzt wird, nämlich offen und einladend statt verschlossen und abwehrend, hat maßgeblichen Einfluss darauf, in welcher Weise die Muskulatur sich zu einem sängerischen „Instrument“ aufbaut und funktioniert. Bei Veränderung der Gefühlslage ändert sich sowohl beim Sprechen als auch beim Singen die Klangfarbe: Traurige Stimmung macht den Klang dunkler, weicher, aggressive Stimmung dagegen heller und härter. Für den Flucht-, Kampf- oder Erstarrungsmodus etwa müssen sich die kleinen Nackenmuskeln extrem anspannen. Der Mensch wird „hartnäckig“.
Funktionales Singen erfordert aufgrund dieser evolutionären Zusammenhänge den Zustand der Objektivität, denn alle Gefühlsregungen haben Einfluss auf die Funktion.
Die Emotionsübertragung von einem zum anderen Menschen geschieht durch Stimmgebung und emotionale Vorprägung: Worte und Klänge sind Codes mit emotionaler Verschaltung. Eigene Emotionen, die zu Interpretationszwecken hinzugefügt werden, sind überflüssig, da das Singen selbst ja emotionaler Ausdruck ist, auch ohne Text. Außerdem trägt jedes Stück schon eine immanente Gefühlsaussage in sich. Sie erzeugen also eine verwirrende Doppelbotschaft, die den Ausdruck überlädt. Lediglich zu Übungszwecken können sie insofern eine positive Wirkung auf die sängerische Klangerzeugung haben, als sie in den gleichen Gehirnregionen entstehen, und so diese Bereiche mit stimulieren.
Die Wirkung auf das Publikum entsteht durch das Singen selbst. Es ist „ansteckend“, wie andere Gefühlsäußerungen auch, z. B. Seufzen, Lachen, Weinen oder Schreien. Alle Zwerchfellreflexe haben ab etwa dem sechsten Lebensmonat nonverbal diese Wirkung. Die körperlichen Abläufe beim Singen üben also großen Einfluss auf die empathische Reaktion anderer Menschen aus. Sie beeinflussen ihre „Stimmung“.
Ein Wort noch zum Persönlichkeitstyp, der häufig mit Sängerinnen und Sängern in Verbindung gebracht wird: Es ist naheliegend, dass die intensive physische und psychische Beschäftigung mit dem Singen die Charaktereigenschaften verstärkt und einfordert, die es auszeichnen: Es ist eine extrem feine und sensible Bewegungsform, die vollkommen intuitiv abläuft und maßgeblich von Emotionen gesteuert wird. Gleichzeitig ist es eine außergewöhnlich körperintensive und kraftvolle Aktivität. Sängerpersönlichkeiten weisen häufig genau diese Veranlagungen auf, denn sie sind unerlässlich für ihren Beruf.
FALSETT
Im 17. Jahrhundert wurde der Begriff „Falsett“ gebraucht für die Stimmgebung „bei erwachsenen Sängern, wenn sie anstatt ihrer ordentlichen Bass- oder Tenor-Stimme, durch Zusammenzwingen und Dringen des Halses, den Alt oder Discant singen. Man nennet es auch deswegen eine unnatürliche Stimme.“ (Johann Gottfried Walther, „Musicalisches Lexicon“ 1732)
Heute wird damit umgangssprachlich der Tonbereich oberhalb des Übergangs ab etwa es` bezeichnet. Das ist eine für Männer ungewohnte Lage. Ihre Sprechlage und die Lage, in der sie normalerweise singen, ist die tiefe Lage unter dem Übergang. Das Fehlen der Eigenresonanz der Luftröhre erscheint ihnen ungewöhnlich und „falsch“. Frauenstimmen singen jedoch überwiegend in der Lage über dem Übergang, obwohl auch ihre Sprechlage darunter liegt. Für viele Sängerinnen fühlt sich deshalb das Erzeugen von gesungenen Tönen unter dem Übergang falsch an.
Die funktional richtige Klangproduktion beim Singen in der höheren Lage findet im dehnungsdominanten Register, der „Kopfstimme“ statt. Dazu sind sowohl Frauen als auch Männer in der Lage, genauso wie Frauen auch im massedominanten Register, in der sogenannten „Bruststimme“ funktional richtig singen können.
Echtes Falsett, auf deutsch „Fistelstimme“ von italienisch „fistula“, Röhre, Pfeife, also „pfeifende“ Stimmgebung im ursprünglichen Wortsinn, existiert nur innerhalb e`-a`. Nur da ist eine Art Überblasen überhaupt möglich, eine Form der Tonerzeugung, die bei Querflöten Usus ist. Denn echtes Falsett ist Tonerzeugung ohne Beteiligung des Stimmmuskels. Dadurch bietet er seinem Antagonisten keinen Widerstand. So gerät nur das Ligament in Schwingung. Weil damit kein echter Stimmbandschluss erzeugt werden kann, fließt viel „wilde“ Luft hindurch. Die drei muskulären Regelfunktionen der Stimmlippen, Tonhöhenregelung, Lautstärkeregelung und Stimmlippenschluss, sind nicht möglich. Deshalb können die Tonhöhen nur über Luftdruck verändert werden. Das ist eine Überdrucktechnik, die immer ohne Vibrato stattfindet.
FILARE LA VOCE
Das bedeutet übersetzt „die Stimme ziehen“ oder „den Ton spinnen“: Bei der Tonhöhenveränderung nach oben gibt der Vocalis Faser für Faser Muskelmasse ab. Im Gegenzug kontrahiert der äußere Kehlkopfmuskel, um ihn in die Länge zu ziehen. Die dabei entstehende Feinwahrnehmung erinnert an den Vorgang des Spinnens, bei dem ja auch durch subtile und differenzierte Bewegungen ein feiner Faden immer weiter verlängert wird, ohne dass er abreißt. Die Assoziation liegt also nahe.
FORMANT
Der in der Akustik häufig verwendete Begriff „Formant“ bedeutet, dass in der Obertonreihe, die über einem Grundton entsteht, sich mehrere Obertöne zu einer Obertonballung „formieren“. Jede Vokalfarbe ist definiert durch einen tiefen und einen höheren Vokalformanten. Diese Ballung ergibt sich aus der jeweiligen Form des Rohres, in dem die stehende Welle schwingt. Dabei ist es unerheblich, wie lang das Rohr ist. Allein die Form ist ausschlaggebend. Das ist auch der Grund, warum Tierstimmen und von unbelebten Gegenständen hervorgerufene Klänge oft für unsere Ohren wie Vokale klingen. Sehr empfehlenswert in diesem Zusammenhang ist das Kurzvideo auf youtube: demostracion de la fonacion humana.AVI.
Der von den Stimmlippen erzeugte Grundton und der erste Vokalformant, der darüber im sogenannten Vestibül entsteht, sind akustisch nicht trennbar. Sie sind verantwortlich für das dunkle Timbre der Gesangsstimme. Auf der Sprachebene entsteht aufgrund des hochstehenden Kehlkopfs der untere Formantbereich nur unvollständig bis gar nicht. Der zweite Vokalformant bildet sich an einer vokaltypischen Engstelle im Vokaltrakt unterhalb des weichen Gaumens. Er ist verantwortlich für die Verständlichkeit des jeweiligen Vokals.
Durch ihre Prägung auf Sprache sind viele Chorleitende und Laien gewöhnt, vor allem oder sogar ausschließlich auf den zweiten Vokalformanten zu achten. Sie fördern damit eine Klangbildung, bei der ein Ungleichgewicht zwischen den beiden Formantbereichen herrscht. Fehlt aber der erste Formant, weil der Kehlkopf zu hoch steht, ist es unmöglich, mühelos Masse anzukoppeln. Die Rundung, der Klangraum reicht dafür nicht aus. Dann klingt die Stimme sehr hell, fast wie eine Kinderstimme. Der Belcanto nennt diesen Klang „bianco“, „weiß“. Eine hinunter gedrückte Zunge wiederum verhindert die Ausbildung des oberen Formanten. Der Klang der Stimme wird dann dumpf, der Vokal unverständlich.
Unterhalb und oberhalb der Frequenzbereiche, von denen die Vokalfarbe definiert wird, ist es unmöglich, klare Vokale zu artikulieren. Die sie bestimmenden Merkmale sind dort nicht oder nur unvollständig vorhanden. Zum Beispiel kann ein geschlossenes „u“ nur innerhalb der Oktave es`-es`` gebildet werden, weil die beiden Formantbereiche, die es akustisch definieren, bei ca. 300 und 600 Hz liegen. Das entspricht in etwa es`-es``.
Um erkennbare Vokale zu bilden, gibt es demnach zwei Möglichkeiten: Man verkürzt und verkleinert das ganze „Instrument“, und verändert so die akustischen Rahmenbedingungen, man singt sozusagen „mit Kinderstimme“. Oder man erlaubt eine Öffnung des unteren, in der Folge fallweise auch des oberen Vokaltrakts, zum nächst offeneren Vokal hin. Bei dieser Variante bleibt der Kehlkopf auf seiner sängerischen Tiefposition. Der sängerische Ablauf bleibt dann ungestört erhalten.
Für hohe Töne ist wichtig, zu wissen: Weil die oberen Vokalformanten für „u“, „o“ und „a“ bei erwachsenen Menschen unterhalb von a`` liegen, ist es ihnen nicht möglich, diese Vokale in der Lage adäquat zu artikulieren. Männerstimmen haben es da entschieden leichter als Frauenstimmen, da sie sich bei der Tonbildung praktisch nie in diesen Frequenzbereichen bewegen. Das ist einer der Gründe für die „undeutliche“ Aussprache von Sopranistinnen: Sie spüren instinktiv, dass es ihrer Stimme und der Qualität ihres Gesangs schadet, wenn sie zu deutlich im Sinn der Sprachgewohnheit artikulieren. Denn so verlieren den ersten Vokalformanten, weil das System schließt und der Kehlkopf hochgezogen wird . Die Gesangsfunktion kann dann nicht störungsfrei ablaufen und die Stimme wird müde.
Die Obertonballungen oberhalb der beiden Vokalformanten sind nicht an der Vokalbildung beteiligt. Sie beeinflussen aber maßgeblich den Stimmklang und die Tragfähigkeit. Besonders gilt das für die drei sogenannten „Sängerformanten“. Sie können allerdings nicht bei jeder Tonhöhe entstehen: Wenn der Grundton diese Frequenzen nicht im Klangspektrum hat, werden sie nicht angeregt.
Der erste Sängerformant liegt um 3000 Hz, das entspricht etwa fis````. Er entsteht durch Verschmelzung des dritten und vierten Vokalformanten. Für die Tragfähigkeit ist er von höchster Wichtigkeit, da die menschliche Hörkurve im Frequenzbereich um 3000 Hz am empfindlichsten ist. In Babygeschrei ist diese Frequenz immer enthalten. Darum stellt sie ein besonderes emotionales Stimulans für die Zuhörenden dar.
Der zweithöchste und der höchste Sängerformant wirken als Klangcode. Sie liegen um 5000 bzw. 8000 Hz, also ca. d````` bzw. e``````. Sie regen über das Gehör im Gehirn erhöhte Gamma-Nerventätigkeit und Glücksgefühle an. Positive Aktivität wird ausgelöst. Einen ähnlichen Effekt hat Vogelgesang. Vielleicht einer der Gründe, warum Singen sowohl in aktiver als auch in passiver Form glücklich macht?
GAUMEN
Der weiche Gaumen ist lokalisiert zwischen den oberen Backenzähnen. Er besitzt keine eigene Muskulatur. Beim erwachsenen Menschen ist die Schädelbasis leicht gewölbt, so dass der weiche Gaumen sich heben kann. Beim Kind ist sie noch flach. Die Gaumenhebung erfolgt antagonistisch zu Mundöffnung und Kehlkopfsenkung sowie im letzten Drittel der Einatmung durch den Trachealzug.
Ab dem zweiten Drittel der Kieferöffnung, oder auch durch Druck der Zunge nach unten, schließt das Gaumensegel die Nase von innen, indem der Gaumenheber kontrahiert. Das ist eine Funktion, die von allen Primaten nur der Mensch besitzt und ein Indiz für eine Vergangenheit des homo sapiens im und am Wasser. Der weiche Gaumen bildet so den „Deckel“ des „Instruments“, ähnlich wie bei der Gedacktpfeife einer Orgel. Dadurch wird die stehende Welle auf die schwingenden Stimmlippen zurückreflektiert. Sie reagieren reflektorisch auf die entstehenden Luftbewegungen und intensivieren ihre Schließbereitschaft. Das wieder ergibt eine Rückkopplung des Stimmklanges zwischen Stimmlippen und Gaumen, die maßgeblichen Anteil an der immensen Tragfähigkeit der menschlichen Stimme hat. „Der Vokalklang antwortet auf die Hohlheit des Gaumens“, bemerkt dazu Fabricius schon im Jahr 1601. (Franziska Martienssen-Lohmann, „Der wissende Sänger“, S. 122)
Ein willentliches Heben des Gaumensegels ist muskulär unmöglich. Beim Versuch, es aktiv zu heben, drückt die Zunge nach hinten unten. Dadurch wird der Kehldeckel geschlossen. Er verengt, ja verschließt teilweise den Vokaltrakt. Das klangliche Ergebnis ist eine „gepresste Stimme“, ein „enger Ton“.
Die vom Zungendruck ausgelöste Anspannung und Abflachung des weichen Gaumens dämpft außerdem den Klang. Durch den Gähnreflex wird diese Form der Gaumenhebung initiiert. Der Grund ist wahrscheinlich der Schutz der Lunge während der extremen Öffnung der Atemwege.
Bei der sängerischen Hebung des Gaumens durch Mundöffnung und Absenkung des Kehlkopfs bewegt sich das System in der Mitte schlank nach oben. Da es unwillkürlich auf akustische Phänomene reagiert, verstärkt sich in der Höhe (ca. ab c``) die Hebung von selbst immer mehr. Sie bleibt aber erhalten, wenn die Funktion wieder in Richtung Massefunktion geht. Der weiche Gaumen verstärkt aufgrund seiner Kuppelform die hohen Frequenzen im Klang.
GESANGSREFLEX
zusammengesetzte Reflex, der dem menschlichen Körper zur Verfügung steht. Er besteht aus angeborenen, unbedingten und erworbenen, bedingten Reflexen.
Reflexe sind blitzschnelle Reaktionen des Körpers, die unwillkürlich ablaufen. Sie können nicht bewusst gesteuert werden. sondern werden durch bestimmte Reize ausgelöst. Unter ähnlichen Bedingungen folgt auf den entsprechenden Auslöser immer die gleiche Reaktion. Diese Reiz-Reaktions-Verknüpfung ist der Reflex. Die neuronale Verschaltung zwischen beiden nennt man Reflexbogen. Die Nervenzellen vieler Reflexbögen liegen im Rückenmark. Ohne den Umweg ins Gehirn können die Schaltwege dadurch möglichst kurz gehalten werden. Das erlaubt beispielsweise in Gefahrensituationen eine unmittelbare Reaktion.
Zwei frühkindliche Reflexe, die im Gesangsreflex enthalten sind, sind der Such- und der Saugreflex: Als Reaktion auf eine Berührung des Mundwinkels spitzen Säuglinge die Lippen, und sobald sie damit etwas berühren, beginnen sie zu saugen. Ein weiterer verwandter Reflex ist der Niesreflex, dessen primäre Aufgabe es ist, Fremdkörper aus den Luftwegen zu entfernen. Er wird an der gleichen Stelle im Rückenmark ausgelöst wie der Gesangsreflex, nämlich etwa auf Höhe der fünften Rippen. Auch für die Auslösung des Niesreflexes ist das Einatmungsvolumen entscheidend. Interessant ist dabei im Vergleich zum Gesangsreflex, dass bei zu weiter Mundöffnung der Niesreflex gestoppt wird. Der Effekt, etwas aus der Nase zu schleudern, wird durch die weite Mundöffnung unmöglich gemacht, denn sie löst den Verschluss der Nase durch die Hebung des weichen Gaumens aus. Im Laufe des Lebens werden andere bedingte Reflexe durch Konditionierung dazu erworben.
Auch beteiligt ist ein Verhalten, das praktisch alle Tiere haben, die selbstständig atmen, nämlich das Räkeln. Es ist primär häufig mit dem Gähnreflex verbunden und vermutlich dazu da, die gesamte Muskulatur, also auch die Ein- und Ausatmungsmuskulatur, gegeneinander zu dehnen, um sie zu aktivieren. Dadurch entsteht eine deutlich präsentere und wachere Körperwahrnehmung. Viele Sinnesrezeptoren werden dabei angeregt. Bei all diesen brustkorberweiternden Reflexen wird infolge der Aktivierung eines Dehnungsreizes im Bereich des fünften Rippenpaares ein intensives Wohlgefühl ausgelöst, das ausbleibt, wenn die Dehnung nicht vollständig erfolgt und der Reflex infolgedessen nicht ausgelöst wird. Das Wort „Aufatmen“ beschreibt diesen Zusammenhang suggestiv. Das ist auch beim Gesangsreflex zu beobachten. Im Gegensatz dazu sind Zustände, in dem diese Erweiterung und Hebung der Rippen nicht erfolgt oder nicht erreicht wird, emotional offenbar mit Erlebnissen verbunden, die durchgängig mit Begriffen beschrieben werden, die Assoziationen von Gewicht und Schwere im Brustbereich wecken: Man „hat etwas auf dem Herzen“, man ist „bedrückt“ oder „niedergedrückt“, weil etwas „Belastendes“ „wie ein Stein auf der Seele“ liegt. Die Sprache kennt noch viele ähnliche Ausdrücke. Fällt dann „der Stein vom Herzen“, wird einem wieder „leicht ums Herz“. Ein „Seufzer der Erleichterung“ ist schon eine Vorstufe von Gesang.
Am Beginn des Gesangsreflexes steht ein neurologischer Impuls im Mittelteil des Stammhirns. Er wird durch eine sängerische Einatmung von mindestens 50% ausgelöst. Sie korrespondiert mit dem Stimmeinsatz, der vom selben Hirnareal gesteuert wird. Der Vocalismuskel wird davon innerviert, denn er ist das Einatmungsventil. Bei der Phonation wird durch den dosierten Luftstrom von unten die Schleimhaut aufgrund des aerodynamischen „Bernoulli-Effekts“ von rechts und links in rhythmischen Abständen angesaugt, und so am Schwingen gehalten. Das funktioniert aber nur bei optimalem Luftstrom.
Ist der Gesangsreflex soweit von ihm zuwider laufenden Gewohnheiten befreit, dass er dominant die Klangerzeugung leiten kann, ist er selbstregulierend und selbstoptimierend. Anders ausgedrückt, wenn die Stimmlippen optimal arbeiten, organisiert sich der ganze Körper nach ihnen: Das Ventil meldet zurück, was es an Einatmungsaktivität braucht, und das System richtet sich danach. Diese Verbindung reagiert auf Achtsamkeit. Sie wird im Verlauf der Tonerzeugung weiter optimiert, weil die schwingende Luftsäule über die Sinneszellen der sie umkleidenden Schleimhaut fühlbar wird. Voraussetzung dafür ist ein optimal tief stehender Kehlkopf. Was den Kehlkopf nach oben zieht und den Vokaltrakt verengt, stört oder verhindert den Gesangsreflex. Töne, die dann entstehen, stammen aus anderen neuronalen Programmen.
Das bedeutet auch: In untrainiertem Zustand gehört der Stimmmuskel dem Atemsystem an und reagiert ausschließlich darauf. Erst durch den Erwerb der Fähigkeit zu vollständiger sängerischer Einatmung wird das „Stimmorgan“ zu einem eigenständigen System, das fähig ist, sich aus sich selbst heraus zu regeln. So wird funktionales Singen erst möglich.
GESTALTUNG
Künstlerische Gestaltungsfreiheit besteht nur im Rahmen der Selbstregulation der Stimmlippen, wenn ein funktional gesunder Umgang mit der Stimme gewährleistet sein soll. Aber im Laufe der Beschäftigung mit der Materie entwickelt sich ein sängerisches Gespür, ein Instinkt für Stimmgesundheit und damit ein neuer Zugang zu den vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten, die der Singstimme innewohnen. Denn für die differenzierte Fähigkeit, sich emotional auszudrücken, ist sie ja überhaupt entstanden. Es ist sehr interessant, zu entdecken, welche kreativen Möglichkeiten das System von selbst bereitstellt, ohne dass sie bewusst angestrebt werden. Dieser Ansatz der intuitiven Kreativität des Körpers deckt sich mit dem der Feldenkrais-Lehre.
GLISSANDO
Glissando bedeutet Gleiten durch die Tonhöhen ohne Tonschritte. Beim Glissando sind alle Parameter in Bewegung außer dem Vibrato. Durch leichte Kontraktion zweier Einhängemuskeln rechts und links am Kehlkopf, die beim Glissando reflektorisch erfolgt, wird der Grundtremor der schwingenden Stimmlippen abgebremst. Die Vibratoimpulse laufen aber auch während der Glissandobewegung weiter. Werden sie hörbar durch Lösen der Kontraktion, entsteht ein Portamento. Dabei vollzieht sich dann die Tonhöhenveränderung, durch das Vibrato geleitet, in Dritteltonschritten.
Sobald die Tonhöhe verlassen wird, wird das Vibrato minimiert. Das ist ein neuronales Programm. Die Kunst, nonvibrato zu singen, fußt auf diesem Zusammenhang: Die Vibratoschwingung wird dabei nicht durch Verengung des Raumes oder erhöhten Luftdruck gestoppt, oder entsteht von vornherein nicht wegen einer gestörten Funktion., sondern die Kontraktion der beiden Muskeln am Kehlkopf wird aktiviert durch den Wunsch, ein Glissando zu singen. Behält man die Tonhöhe anschließend doch bei, entsteht ein Klang ohne Vibrato. So wird Nonvibratotechnik auch geübt. Sie ist für erwachsene Stimmen ja nicht naturgegeben. In manchen Musikstilen wird sie aber gefordert aufgrund des Umstands, dass die Musik ursprünglich für Knabenstimmen komponiert wurde. Nur diese Art, das Vibrato zu kontrollieren, gewährleistet einen gesunden Umgang mit der erwachsenen Stimme. Es versteht sich von selbst, dass das erst möglich ist, wenn bereits ein regelmäßiges Vibrato existiert.
Eine weitere Form von Glissando ist das „Vokalglissando“: Beim Singen ist es günstig, nicht ruckartig von einem Vokal zum anderen zu wechseln, weil plötzliche Bewegungen vom Gehirn mit Erschrecken assoziiert werden und daraufhin das System schließt. Deshalb werden für die funktional gesunde Stimmbehandlung die Bewegungen von einem Vokal zu anderen von der Artikulationsmuskulatur gleitend ausgeführt. Das ist anders als bei der Sprachgewohnheit, wo die Konsonanten durch die Schließung des Mundraumes den folgenden Vokal vorformen. Bei der sängerischen Artikulation werden die zwischen Ausgangs- und Zielvokal liegenden Vokale minimal hörbar, wobei die Konsonanten diese Bewegung so wenig wie möglich stören. Trotzdem entsteht der akustische Eindruck von klaren Vokalwechseln, da das Gehör alle Vokale durch ihre Formanten definiert. Das Phänomen ist aus dem Bereich des Sehens vom Regenbogen her bekannt: Er bildet das gesamte sichtbare Farbspektrum nahtlos ab. Trotzdem sind wir imstande, die verschiedenen Farben klar zu unterscheiden.
GLOTTISSCHLAG
Der Begriff wird üblicherweise verwendet zur Beschreibung einer Sprengung der Stimmlippen durch großen Luftdruck von unten, hervorgerufen durch starken Druck der schrägen Bauchmuskulatur: Die Atemluft staut sich unter der geschlossenen Stimmritze, der Glottis. Dadurch werden die Stimmlippen nach oben ausgelenkt. Können sie dem Druck nicht mehr standhalten, werden sie auseinandergesprengt. Diese Vorgehensweise macht selbstverständlich eine gesunde Stimmbehandlung unmöglich und ist völlig unvereinbar mit dem reflektorischen Stimmeinsatz bei der funktionalen Klangerzeugung.
Der Begriff „coup de glotte“, von dem sich der Begriff ableitet, wurde von dem namhaften Gesangslehrer Manuel Garcia im 19. Jahrhundert geprägt. Die wörtliche Übersetzung davon ist „Glottisschlag“. Garcia war Stimmforscher und ein sehr erfolgreicher Gesangslehrer. Es ist naheliegend, dass er den Begriff „coup“ eher in der heute üblichen Weise gebraucht hat, die eine unerwartete, gelungene Aktion meint. Das passt viel besser als Beschreibung für den Stimmeinsatz.
GOLA APERTA
Die wörtliche Übersetzung dieses Begriffs ist "offene Kehle". Durch die sängerische Kieferöffnung ohne Beteiligung von Zungendruck und die sängerische Einatmung kann der Kehlkopf von der Ruhestellung in Höhe des zweiten Halswirbels bis zur Höhe des fünften Halswirbels abgesenkt werden. Dabei öffnet sich die Stimmritze immer weiter, zunächst in Form eines Dreiecks („Dreipunkt-Öffnung“), bei weiterer Senkung sukzessive durch Zuschalten weiterer Muskelgruppen der Einhängemuskulatur bis zu einer nahezu runden Öffnung („Siebenpunkt-Öffnung“).
Die optimale Tiefstellung bleibt im Idealfall während der gesamten Tonproduktion erhalten. Im Verlauf der Öffnung der Stimmritze durch die Kehlkopfsenkung richtet sich auch der Kehldeckel auf, bis er beinahe senkrecht steht. So ist bei Beginn der Tonerzeugung die Luftröhre nach oben praktisch vollständig geöffnet.
Das könnte es sein, was man in der Belcantosprache „vor dem Gesange den Deckel heben“ nannte. Die schließende Schutzfunktion der Stimmlippen wird dabei ersetzt durch ihre kinetische Energie und den höheren Muskeltonus, also ihre erhöhte Schließbereitschaft.
HÖHE
Um hohe Töne zu erzeugen, müssen die Stimmlippen schneller schwingen, als beim Erzeugen von tiefen Tönen. So schwingen sie bei einem a`` 888 Mal pro Sekunde hin und her. Das ist ein sehr komplexer Vorgang. Er setzt einen sehr hohen Tonus und eine besondere Differenzierungsfähigkeit des ganzen Systems voraus. Diese Parameter sind beim untrainierten Körper nicht vorhanden. Sie müssen schrittweise aufgebaut werden.
Das antagonistische Muskelpaar Stimmlippenmuskel und äußerer Kehlkopfmuskel kann nur gemeinsam trainiert werden. Ein kontrahierender Vocalis trainiert den Kehlkopfkipper und umgekehrt. Anders ausgedrückt: Die Höhe wird in der Tiefe trainiert. Dabei geht es um die Spannkraft und Elastizität des gesamten Systems. Denn je trainierter ein Muskel ist, zu desto differenzierterer Aktion ist er fähig. Das besagt auch das bekannte Zitat aus dem Belcanto: „Die Höhe des Sängers ist gebaut auf den tiefsten Tönen.“
Um hohe Frequenzen zu ermöglichen, kontrahiert der Ring- Schildknorpelmuskel, der an der vorderen Spitze des Schildknorpels ansetzt, und zieht so die Stimmlippen in die Länge, wobei das System nach vorne und unten nachgibt. Da sie dadurch dünner werden, erhöht sich ihre Schwingungsfrequenz, wie das bei jedem elastischen Band geschieht. Der schwingende Muskelanteil wird mit zunehmender Dehnung immer geringer, bis bei fis`` keine Muskelmasse mehr an der Schwingung beteiligt ist. Der obere Rand, das Ligament, schwingt dabei in ganzer Länge.
Entsprechend weiter und länger wird der Vokaltrakt in der Höhe. Die vollständige Dehnung der Stimmlippen braucht die große Weite des Vokals „a“. Unter anderem deshalb ist eine der Sprachgewohnheit entsprechende Artikulation von „o“ und „u“ in der Höhe unmöglich.
Je höher der gesungene Ton ist, desto weniger Veränderung im Vokaltrakt ist nötig. Zum Vergleich: Die Griffe auf dem Griffbrett eines Saiteninstruments werden immer enger, je höher der erzeugte Klang wird. Eine geringfügige Veränderung an den Stimmlippen durch die Aktivität des Kehlkopfkippers ändert schon die Tonhöhe.
Bei steigender Tonhöhe wird die hohe Schwingung am weichen Gaumen immer stärker fühlbar, denn da wird sie verstärkt. Durch die Absenkung des Schildknorpels durch den Zug des äußeren Kehlkopfmuskels wird die Form des weichen Gaumens immer schmaler und länger.
Mit intensiverer Wahrnehmung der Kopfresonanz fühlt sich die Klangentstehung „höher“ an. Die Klangerzeugung bleibt aber am selben Ort im tiefstehenden Kehlkopf. Trotz der starken oberen Schwingung bleibt die untere Schwingung im Vokaltrakt dominant. Sie ist und bleibt die primäre Vibration, ohne die überhaupt keine hohe Schwingungswahrnehmung entstehen könnte. Auch der subglottale Luftdruck wird bei immer feinerer Schwingung immer noch weiter reduziert. Umso tonisierter muss demzufolge die Einatmungsmuskulatur werden, um den Raum offenhalten zu können. Ist dies gewährleistet, können die tiefen Raumfrequenzen den hellen Klang anreichern, wie beim Rufen in ein Rohr hinein.
Sobald keine Muskelmasse, sondern nur noch das Ligament an der Schwingung beteiligt ist, ist bei gleichbleibender Lautstärke der Stimmbandschluss lockerer als bei tiefen Tönen. Das Singgefühl ähnelt dann dem von Singen im piano. Eine Differenzierung der Lautstärke ist in hoher Lage genau genommen nicht mehr möglich, da ja keine An- bzw. Abkopplung von Muskelmasse mehr stattfindet. Weil aber durch die Verlängerung und Erweiterung des Vokaltrakts auch die Oberflächenspannung der ihn umkleidenden Schleimhäute steigt, verbessert sich die Resonanz. Zugleich steigt durch die Stimmlippendehnung ihre Schließbereitschaft, also die mediale Kompression, an. Dazu kommt noch der Rückkopplungseffekt durch die auf die Stimmlippen zurückgeworfenen Vibrationen, wodurch sie zu erhöhter Aktivität angeregt werden. Für Lautstärkeveränderung in hoher Lage verändert sich also fast ausschließlich die Intensität des Stimmlippenschlusses und damit die Erzeugung von sehr hohen Frequenzen bis zu den Sängerformanten.
All diese immer feiner werdenden Anpassungsbewegungen werden bei optimalen Luftdruck- und Resonanzverhältnissen durch die Stimmlippen in vollkommener Selbstregulation geleitet.
INALARE LA VOCE
Dieser sehr bekannte Ausdruck bezieht sich auf eine Wahrnehmung in der Einatmungsmuskulatur und im Vokaltrakt: Er beschreibt das Gefühl, durch das Beibehalten der dominanten Einatmungsaktivität während der Ausatmung beim Singen „die Stimme einzuatmen“. Der Luftfluss wird bei der Phonation von den Stimmlippen so fein dosiert, dass die extrem differenzierte Schwingungsbewegung ungestört ablaufen kann. Die unvermindert hohe Aktivität der Einatmungsmuskeln, die sich im Laufe einer Phrase teilweise sogar noch erhöht, bewirkt, dass das Ende der Klangproduktion zugleich der Beginn der nächsten Einatmung ist. Denn die Einatmungsmuskulatur arbeitet ja durchgehend dominant. Das Ende der Einatmung wiederum ist der Beginn des nächsten Tones.
Die Einatmungsdominanz wird also aufgebaut für den ersten Einsatz und besteht die gesamte Phonation hindurch bis zum Ende des letzten Tones. Dieses Prinzip erinnert an die japanische Kampfkunst „Aikido“: Die bereitgestellte Energie wird niemals abgeblockt und neutralisiert, sondern stets zielorientiert genutzt und verstärkt.
INALARE L VOCE
Dieser sehr bekannte Ausdruck bezieht sich auf eine Wahrnehmung in der Einatmungsmuskulatur und im Vokaltrakt: Er beschreibt das Gefühl, durch das Beibehalten der dominanten Einatmungsaktivität während der Ausatmung beim Singen „die Stimme einzuatmen“. Der Luftfluss wird bei der Phonation von den Stimmlippen so fein dosiert, dass die extrem differenzierte Schwingungsbewegung ungestört ablaufen kann. Die unvermindert hohe Aktivität der Einatmungsmuskeln, die sich im Laufe einer Phrase teilweise sogar noch erhöht, bewirkt, dass das Ende der Klangproduktion zugleich der Beginn der nächsten Einatmung ist. Denn die Einatmungsmuskulatur arbeitet ja durchgehend dominant. Das Ende der Einatmung wiederum ist der Beginn des nächsten Tones.
Die Einatmungsdominanz wird also aufgebaut für den ersten Einsatz und besteht die gesamte Phonation hindurch bis zum Ende des letzten Tones. Dieses Prinzip erinnert an die japanische Kampfkunst „Aikido“: Die bereitgestellte Energie wird niemals abgeblockt und neutralisiert, sondern stets zielorientiert genutzt und verstärkt.
INTONATION
Intonation entsteht am Grundton. Jede Tonhöhenregelung kann nur da erfolgen, wo der Klang entsteht. Man kann eine Wirkung nur über ihre Ursache verändern. Ohne Grundtonwahrnehmung kann die Intonation nicht geregelt werden.
Für das Verstehen von Sprache nutzt der Gehörsinn den oberen Vokalformanten, der untere ist beim Sprechen nicht oder nur ansatzweise ausgebildet. Das erschwert das Erkennen der Frequenz des Grundtons für ungeübte Ohren erheblich. Beim gesungenen Ton ist sie aber ausschlaggebend für die Regelung der Tonhöhe.
Wird nun der Versuch gemacht, über den zweiten Vokalformanten, also über die Vokalfarbe, die Intonation zu verbessern, geht das nur über eine Manipulation der Vokaltraktform. Das kann auf Dauer stimmschädigend wirken, weil so die optimalen funktionalen Voraussetzungen für die Tonerzeugung gestört werden.
Diese Vorgehensweise ist mit dem „Stopfen“ von Blechblasinstrumenten vergelcihbar: Man verformt den Resonator, aber die erzeugte Frequenz bleibt dieselbe, denn sie wird ja an der Klangquelle erzeugt und nicht im Resonator.
Genauso kontraproduktiv ist es, mit Hilfe von Luftdruck oder durch Veränderung der Kehlkopfposition die Intonation zu ändern. Dadurch wird das Mischungsverhältnis von Masse- und Dehnungsdominanz gestört. Die Intonation wird dann nicht direkt reguliert, sondern sie hängt unter anderem von Zufällen und nicht funktionalen Gewohnheiten ab.
Der Anteil an tiefen und hohen Frequenzen im Klang ist von individuellen körperlichen Parametern abhängig. Allgemein kann aber gesagt werden. dass der Eindruck von „zu tief“ oft bei zu wenig hoher Schwingung und der von „zu hoch“ bei zu wenig tiefer Schwingung im Klang entsteht.
Ein Unterschied zwischen Frauen- bzw. Kinderstimmen und Männerstimmen ist noch interessant: Je tiefer der erzeugte Grundton und je länger der Resonator ist, desto mehr Teiltöne können entstehen. Das bewirkt eine bessere Mischung des Gesamtklanges aus Grundton und Obertönen. Stimmen, die vor allem in der ein- und zweigestrichenen Oktave singen, haben wegen der höheren Lage weniger Obertöne. Daraus ergeben sich bei ihnen mehr Intonationsprobleme als bei tieferen Stimmen. Ungenauigkeiten der Grundtonfrequenz fallen dann mehr auf, auch wenn es sich nur um wenige Schwebungen handelt. Zudem liegen die oberen Vokalformanten vieler Sprachvokale unter den zu intonierenden Frequenzen hoher Töne. In dieser Lage ist für genaue Intonation also eine gezielte Veränderung der Vokalisation nötig, die der Sprachgewohnheit entgegensteht. Geschieht das nicht, leidet die Intonation.
BELCANTOBEGRIFFE UND FACHAUSDRÜCKE FUNKTIONAL ERKLÄRT K - N
KEHLKOPF
Der Kehlkopf hängt stabil in der Einhängemuskulatur, die vom weichen Gaumen bis zum Zwerchfell reicht. Er kann in seiner Form in die Länge gezogen werden, da er aus elastischem Knorpelgewebe besteht. Die Stellung des Kehlkopfs ist unabhängig von Vokal, Tonhöhe und Stimmfach. Allerdings kann die Kehlkopfmuskulatur durch Schall beeinflusst werden. Im Kehlkopf entsteht der Schall durch die schwingenden Stimmlippen, die vorne an der Kehlkopfspitze angewachsen sind. Ihre hintere Begrenzung sind die Stellknorpel. Durch sie werden sie geöffnet und geschlossen.
Deutliche Größenunterschiede von etwa einem Viertel bestehen im Erwachsenenalter zwischen Frau und Mann. Der Unterschied im Klang zwischen Jungen- und Männerstimme beträgt gewöhnlich eine Oktave (Frequenzverhältnis 2:1), die Frauenstimme kann gegenüber der Mädchenstimme bis zu einer kleinen Terz absinken (Frequenzverhältnis bis 6:5). Das bedeutet: Der männliche Kehlkopf wächst deutlich mehr als der weibliche. Männer haben demzufolge etwa um die Hälfte längere Stimmlippen und bis zu fünf Mal mehr Muskelmasse als Frauen.
KEHLKOPFSENKUNG
Die Kehlkopfsenkung, in der italienischen Gesangslehre „affondo“ genannt, ist ein elementar wichtiger Aspekt der funktional gesunden Klanggebung. Der Kehlkopf steht in Ruhestellung etwa beim zweiten bis dritten Halswirbel, kann aber bis zum fünften Halswirbel sinken. Im Idealfall senkt er sich symmetrisch. Es kommt aber häufiger zu asymmetrischen Senkungsbewegungen durch Haltungsgewohnheiten. Die Wahrnehmung der symmetrisch schwingenden Luftsäule ist in solchen Fällen das beste und einzig dauerhaft wirksame Regulativ.
Die Kehlkopfsenkung ist unabhängig von Vokal- und Konsonantbildung, Lautstärke und Tonhöhe. Sie wird getriggert und unterstützt durch Dehnung des Lippenrings und eine Kieferöffnung wie beim Saugen. Die Artikulation des zu singenden Vokals erfolgt deshalb erst, wenn der Kehlkopf vollständig gesenkt ist, und ausgelöst durch codierte Impulse aus dem Sprachzentrum gleichzeitig mit dem Toneinsatz. Das bedeutet, die Vorstellung eines Vokalklangs löst im Moment des Einsatzes dessen Bildung aus ohne bewusste Manipulation der artikulierenden Muskulatur. Nur so wird immer eine vollständige Senkung gewährleistet.
„Punctum fixum“, stabiler Ansatzpunkt bei der Senkung ist ein erweiterter Brustkorb und ein kontrahiertes Zwerchfell. Dann erst ist eine vollständige Kehlkopfsenkung möglich. Nur gegen einen unbewegten Stabilisator kann das System öffnen. Die den Kehlkopf senkenden Muskeln können aber stattdessen auch den Brustkorb heben, wenn das „Punctum fixum“ und das „Punctum movens“ vertauscht werden. Kehlkopfsenkung ist also nicht nur ein Zug nach unten, sondern vor allem sogar ein Nachgeben der oberen Einhängemuskulatur und der Constrictoren.
Wenn der Kehlkopf sinkt, vergrößert sich der Abstand zwischen Stimmlippen und Taschenfalten. Antagonistisch zu diesem Zug nach unten erfolgt eine reflektorische Aktivierung und Hebung des weichen Gaumens. Das alles verlängert den Resonator und verbreitert ihn auch bis zu einem gewissen Grad.
Nur bei dieser Tiefstellung des Kehlkopfs funktioniert die Selbstregulation der Stimmlippen optimal. Durch die störungsfreie Schwingung entstehen auch keine irritierenden Wahrnehmungen während der Phonation. Diese Erfahrung hat sich in der Lehre manifestiert, man „dürfe den Kehlkopf beim Singen nicht spüren“. Didaktisch ist jedoch die umgekehrte Reihenfolge die einzige, die eine Entwicklung ermöglicht: Durch die immer feinere Wahrnehmung der subtilen Bewegungen und der davon erzeugten Vibrationen wird es erst möglich, zu erkennen, was im Verborgenen geschieht. Erst dann besteht die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Alternativen zu wählen. Nur das kann zu Veränderungen führen. Am Ende dieser Entwicklung kann tatsächlich das Ziel erreicht werden, dass die Klangproduktion im Kehlkopf nicht mehr ins Bewusstsein dringt, weil nichts der Aufmerksamkeit bedarf.
Durch die unaufhörliche vom Vocalis organisierte Neuabmischung des Verhältnisses von Masse- und Dehnungsdominanz und auch wegen der akustischen Eigenschaften des Resonators ändert sich laufend die Klangfarbe. Leider wird sowohl von Gesangslehrkräften als auch von Chorleitenden immer wieder gefordert, eine Klangfarbe beizubehalten. Das kann jedoch nur durch Erhöhung des Luftdrucks erreicht werden. Dann wird zu viel Muskelmasse zur Schwingung angeregt und außerdem steigt der Kehlkopfsteigt nach oben. Das wird auch als „verbrustetes Singen“ bezeichnet.
Je höher der Kehlkopf steht, desto mehr Störungen entstehen, bis hin zum völligen Ausfallen der Selbstregulation. Denn die Funktion der Stimmlippen als schließendes Schutz- und Spinktersystem wird immer dominanter, je geringer ihre Dehnung und damit ihre Schließbereitschaft wird.
Das Singen mit „tiefgestelltem“ Kehlkopf wurde schon von Manuel Garcia gelehrt. Aber wegen der fehlenden Erklärung, auf welche Weise der Kehlkopf gesenkt werden kann, kam es zu dem Missverständnis, dazu würde Zungendruck eingesetzt. Als Folge dieser Fehlannahme geriet die funktional eigentlich richtige Lehre bald wieder in Verruf.
KLANG
Klang ist hörbar gemachte Bewegung. Er existiert mit der ersten tausendstel Sekunde, in der die Stimmlippen schwingen und ist das Ergebnis eines komplexen physiologischen Ablaufs. Verläuft er störungsfrei, ist der Klang der Singstimme immer schön und außerdem hoch funktional. Daher ist das Hauptziel von funktionalen Gesangstraining, das Zusammenspiel der klangerzeugenden Parameter Aufrichtung, Atmung, Vokaltraktgestaltung und Stimmfunktion im menschlichen „Instrument“ von Einschränkungen und Störungen zu befreien sowie noch nicht entwickeltem Potential zur Entfaltung zu verhelfen. Das geschieht durch ihre direkte effektive Optimierung und nicht durch Veränderung der klanglichen Ergebnisse, denn das wäre nur Symptombehandlung.
Der Klang wird von den Singenden vor allem über das Innenohr wahrgenommen, wobei auch der Knochenklang eine Rolle spielt. Da er sowohl bei den Lehrenden als auch bei den Lernenden aber primär über die äußeren Gehörgänge ins Ohr dringt, ist es wenig zielführend, sich an Klangvorstellungen zu orientieren. Sie führen meistens in die funktionale Verirrung. Die taktile Wahrnehmung der Bewegungsabläufe und der Vibrationsempfindungen im Vokaltrakt und die davon abgeleitete akustischen Klangerfahrungen sind eine viel sicherere Möglichkeit, sich leiten zu lassen. Werden sie optimiert, wird auch der Klang vollständiger und „stimmiger“.
Je feiner die Funktion ist, desto „weicher“ wird der Klang. Durch Sensibilisierung des Gehörs und Differenzierung der Bewegung wird auch der Klang verfeinert.
Klang ist aber auch emotionale Kommunikation. Dieser Parameter kann ebenfalls zu falschen Vorstellungen, Erwartungen und Interpretationen führen und auf diese Weise die funktionale Zielsetzung stören oder sogar aushebeln. Die von Regisseuren immer wieder geforderte Authentizität des textlichen Ausdrucks steht daher oft in diametralem Gegensatz zu gesunder Stimmbehandlung.
KLANGFARBE
Auch Klangfarbe ist etwas sehr Ursprüngliches. Sie entsteht im Vokaltrakt. Auch sie wird durch Emotionen beeinflusst. Bestimmt wird sie durch das Verhältnis von Muskelmasse und Ligament bei der Klangerzeugung.
Die sie beschreibenden Parameter dunkel – hell werden durch die unterschiedlichen Lautstärken der im Klang enthaltenen Teiltöne bestimmt. Beim sogenannten Primärklang ist die Klangfarbe hell, die Vokalfarbe aber dunkel, ähnlich wie bei volltönendem Glockenklang. Der Vokaltrakt verstärkt durch seine jeweilige, veränderliche Form bestimmte Frequenzen des Klanges.
Dabei ist eine Unterscheidung der Begriffe Klangfarbe und Vokalfarbe von großer Wichtigkeit: Der Resonator, der Vokaltrakt, liefert die Klangfarbe und der Artikulator, der Rachen- und Mundraum formt die Vokalfarbe. Im Verhältnis zu den sekundären Schwingungen der Vokalfarben leitet die primäre Schwingung der Klangfarbe („Grundtönigkeit“) stärker die Schwingungsregulation. Das ist von großer Bedeutung für die Reihenfolge beim funktionalen Unterricht: Zuerst muss die Ursache, also der Grundton erkannt und der entstehende Klang darüber reguliert werden, damit sich daraufhin die Wirkungen dieser Schwingung in Form der Obertöne bis hin zu den Sängerformanten ausbilden können. Zu Anfang der funktionalen Ausbildung werden die meisten Stimmen daher erst dunkler. Im weiteren Verlauf der Differenzierung der Gesangsfunktion entwickeln sie dann die optimale Strahlkraft und Tragfähigkeit.
Eine weitere Unterscheidung ist nötig in Bezug auf die Begriffe Klangfarbe und Stimmklang. Das persönliche „Timbre“ wird definiert durch die individuelle Form des „Instruments“, aber auch durch Gewohnheiten und Schutzschließungen. Die hörbaren Parameter dafür sind „weich“ - „hart“, „voll“, „rund“ - „eng“, „gepresst“ und weitere assoziative Beschreibungen.
KNÖDEL
Dieser sehr lautmalende Begriff beschreibt tatsächlich das klangliche Ergebnis, wenn der Vokaltrakt durch einen „Fremdkörper“ verstellt ist. Üblicherweise wird zwischen hartem und weichem Knödel unterschieden. Dabei ist es jeweils die Zunge, die der Entfaltung des Klanges buchstäblich im Weg steht.
Je nach dem Grad ihrer Kontraktion und ihrer Position im Raum entstehen verschiedene Varianten: Beim harten Knödel zieht die Rückwärtsbewegung des Zungengrundes die ganze Zunge mit sich, so dass der Rachenraum verengt wird. Es entsteht ein „harter“, „gepresster“, „gequetschter“ Klang.
Beim weichen Knödel wird die Zunge hochgezogen und damit auch der Kehlkopf. Der Klang wird nasal und verliert seine dunklen Anteile, weil die tiefen Frequenzen nicht vollständig ausgebildet werden. Auch ein guter Stimmlippenschluss ist dann nur unvollständig herstellbar. Daher wirkt der Klang „ohne Kern“ und „weich“.
KOLORATUR
Die Koloratur ist das Markenzeichen des Belcanto. Die Voraussetzung dafür ist, dass die Gesangsfunktion ungestört abläuft und die Druckverhältnisse sowie die Balance zwischen agonistischer und antagonistischer Muskulatur stimmt. Dann entsteht eine Kehlfertigkeit, die sehr schnelle regelmäßige Tonwechsel bei ungestörter Einatmungstendenz ermöglicht. Das Ganze ist eine Art „Gangart“ der Stimmlippen, die über die Vibratofrequenz von 5-7 Hz koordiniert wird.
Wird eine Koloratur so ausgeführt, ist sie keine Tätigkeit mehr, sondern ein Zustand. Das maximale Tempo für Tonhöhenwechsel ist demnach auf 5-7 Wechsel pro Sekunde festgelegt. Es ist bis zu einem gewissen Grad modifizierbar und so an die Erfordernisse der Literatur anpassbar. Bei schnelleren Tempi werden zwei Töne auf eine Vibratoschwingung genommen.
Es existiert sogar eine Übungsanweisung aus der alten italienischen Gesangsschule: Johann Friedrich Agricola (1720-1774) beschreibt das in seiner Übersetzung der „Opinioni“ von Pier Francesco Tosi, einem der berühmtesten Kastraten seiner Zeit (1723) so, dass je „zwo und zwo Noten zusammengeschliffen“ werden müssen. Das ist ein völlig anderes Konzept als das, über Zwerchfellstöße die Tonwechsel anzustoßen. Es ermöglicht das Singen von Koloraturen im vollkommenen Legato.
KONSONANTEN
Das Programm für Konsonantbildung ist ein ständig genutztes, unbewusstes Sprachprogramm. Es wurde im Kleinkindalter gelernt, mit kurzem Resonator und hohem Kehlkopf. Mit dem Spracherwerb ist die Programmierung abgeschlossen.
Alle Konsonanten haben eine Schließtendenz, damit das Geräuschhafte der spezifischen Konsonantlaute hergestellt werden kann. Darum müssen sie bei der sängerischen Klangerzeugung möglichst kurz artikuliert werden, damit die dominante Öffnungstendenz, das Grundprogramm des Singens, erhalten bleibt. Sie werden gewissermaßen als „Implosion“ gebildet, den Vokaltrakt öffnend, statt schließend als „Explosion“. Das bedeutet, sie sind unaspiriert, denn Aspiration ist Ausatmung. Der Konsonant bewirkt nur einen kurzen Stopp des Luftflusses, keinen Luftverlust durch Aspiration. Dabei soll der Konsonantendruck nicht höher sein als der Luftdruck bei der Klangbildung. Die Konsonantbehandlung der italienischen Sprache erfüllt genau diese Voraussetzungen für eine ungestörte Klangbildung. Darin liegt ist sicher ein Grund dafür, dass die berühmte Belcantotechnik in diesem Land entstanden ist. Vielleicht ist umgekehrt auch ein gutes Gefühl für den gesunden Umgang mit der Stimme eine Wurzel dieser klangvollen Sprache.
Die Artikulationsbewegungen sollen möglichst fließend sein, denn jede ruckartige Bewegung wird assoziiert mit Erschrecken, also mit Schließung. Je weniger Aufwand sie benötigen, desto besser ist es für die ungestörte Schwingung. Die gleichzeitige Wahrnehmung der Stimmlippenebene gewährleistet deren Dominanz.
Sobald die Zunge am Zahndamm landet und den Mundraum schließt, stoppt der Kontakt die Vibratoschwingung. Wird die Bewegung aber sehr schnell ausgeführt, bleibt auch diese Schwingung dominant wirksam.
Auch Konsonanten werden wie Vokale mit schmaler Zunge bei entspannt nach unten zeigenden Zungenseiten gebildet. Der Zungenrücken dagegen steht relativ hoch, etwas auf Höhe der Backenzähne. Im Belcanto wird das „ng-Position“ genannt. Das sängerische Ziel dabei ist, dass der Vokaltrakt offen bleibt und der Klangstrom ohne Unterbrechung weiterfließt. Es gilt, den rezessiven Überdruck der Konsonanten in die dominante Einatmungstendenz der Gesangsfunktion zu integrieren.
Die in der deutschen Sprache für harte stimmlose Konsonanten übliche Aspiration ist verbunden mit einem Akzent. Für Textdeutlichkeit wird daher gerne auf eine Anlehnung an den Spuckreflex verwiesen. Die reflektorische Einatmung, die auf diesen Reflex folgt, ist aber ähnlich wie beim Niesen die Folge der Rückstellkraft der Rippen nach dem großen Luftverlust, der durch das nach außen Schleudern eines Fremdkörpers eingetreten ist. Sie rührt von einem starken Ausatmungsimpuls der schrägen Bauchmuskeln her. Das ist für das Singen sehr ungünstig . Es kann aber durch das Dazwischenschieben eines weichen Zischlautes ersetzt werden, also beispielsweise „z“ statt „t“. Eine derartige Bildung von Endkonsonanten ähnelt dann der „Permanentatmung“ beim Blasinstrument: Die neue Einatmung ist muskulär schon eingeleitet, während noch etwas Luft geräuschhaft nach außen fließt. Diese Vorgehensweise erinnert an den Spuckreflex, findet aber im Unterdruckmodus statt.
Für das Erlernen dieser „neuen Sprache“ gilt folgende Reihenfolge:
Erst muss der Resonator und in Bezug dazu die optimale Bildung des Konsonanten erkannt werden. Dadurch wird der Artikulationsraum deutlicher erspürt, was die Bildung weiterer Konsonanten erleichtert. Die Konsonantbildung erfolgt am Besten schon in der Form des folgenden Vokals. Stimmlose Konsonanten werden präzise, sehr weich, mit möglichst wenig Luftverlust und ohne Tonvorstellung artikuliert.
Dabei ist zu beachten: Stimmlose Konsonanten haben eine sehr hohe Eigenfrequenz, die vom Ohr wahrgenommen wird. Das kann unterbewusst eine Schließtendenz auslösen. Eine interessante Entsprechung dazu bildet dazu der sprachübergreifende Laut „psst!“ oder „schsch!“, der benutzt wird, um andere zum Schweigen zu bringen. Eine mögliche Erklärung dafür könnte sein, dass raschelnde und zischende Laute aus evolutionären Gründen mit Gefahr assoziiert werden und daher Schutzreaktionen wie beispielsweise Erstarren triggern.
Die Artikulation von Konsonanten auf der Tonhöhe des zu singenden Tones ist aus funktionaler Sicht nur bis d` sinnvoll. In höherer Tonlage sollten sie auf Sprachebene geplant und gebildet werden. Ausnahmen sind wegen der Möglichkeit, den Kiefer dabei offen zu lassen, nur „s“ (bis a`), und „l“ und „w“ (bis d``). Der darauf folgende Vokal erklingt natürlich auf der gewünschten Tonhöhe. Das Gehirn berechnet nämlich vorab den Luftdruck für die Tonhöhe beim Toneinsatz. Bei der Artikulation der meisten Konsonanten muss der Kiefer aber ganz oder beinahe geschlossen sein, was die Kehlkopfsenkung verhindert. Wenn der Konsonant also auf Tonhöhe geplant wird, wird statt des Öffnungsimpulses für die Phonation ein Schließimpuls gesendet. Der Kehlkopf wird dann reflektorisch von der Artikulationsmuskulatur nach oben gezogen, der Vokaltrakt verkürzt und verengt, so dass der bereitgestellte Luftdruck zu hoch ist und funktional gesundes Singen unmöglich wird. Besonders ungünstig ist eine von der Sprachgewohnheit gesteuerte Konsonantenbildung ab d``.
Ab dieser Tonhöhe ist eine optimale Öffnung des Vokaltrakts unbedingt notwendig, um den Ton ohne Überdruck zu erzeugen. Sonst käme das Tonerzeugungsprogramm im Überdruckmodus zum Einsatz. Deshalb vermeiden besonders Sängerinnen instinktiv diesen Effekt, indem sie vor hohen Tönen stimmhafte Konsonanten kurz, mit wenig Luftdruck und auf „Schwa”, also in tiefer Sprechlage artikulieren, damit kein Luftdruck auf den gesungenen Vokal übergeht. Das ist der funktional sinnvolle Grund für das beliebte „Anschleifen“ hoher Töne. Alles andere wäre auf die Dauer stimmschädigend. Erfahrenen Sängerinnen oder Sänger verstehen es allerdings, das im Idealfall so unauffällig zu gestalten, dass es kaum oder gar nicht wahrnehmbar ist. Das ist möglich etwa durch einen unhörbar schnellen „Oktav- oder Quintsprung“.
LEGATO
Legato ist die Grundfunktion der sängerischen Klangerzeugung. Vollkommenes Legato ist nur bei geöffnetem Vokaltrakt möglich. Der Schlüssel zum Legato ist das Vibrato, der störungsfreie Grundtremor der ausbalancierten Atemmuskulatur. Einen Ton zu „halten“, wie es oft gefordert wird, ist physiologisch unmöglich, das wäre Stillstand. Die Schwingung entwickelt sich immer weiter, und die Phonation wird immer energievoller zum Ende des Tones hin.
LIGAMENT
Das Ligament, das sogenannte Stimmband, ist die Umhüllung des Vocalismuskels. Anatomisch ist es eine Sehne und daher elastisch und dehnbar. Die maximale Ligamentdehnung ist bei a`` erreicht. Für noch höhere Frequenzen erfolgt die Tonhöhenveränderung nach akustischen Gesetzmäßigkeiten. Um Ligament und Vocalis legt sich die Schleimhaut.
Das Ligament wird deutlich spürbar durch staccato. Die Berührung der beiden Stimmlippen ist dabei sehr kurz, nämlich eine Vibratoschwingung, also 1/5 bis 1/7 Sekunde. So berühren sich vor allem die Ligamente.
Um für die Phonation optimal genutzt werden zu können, muss das Ligament an die große Dehnung gewöhnt werden. Sonst kommt es zu Schutzreaktionen, denn die Primärfunktion des Ligaments ist wie beim Vocalis selbst der Schutz der Luftwege.
Neugeborene haben noch keine Stimmbänder. Sie entwickeln sich erst durch Training des Stimmmuskels.
LIPPEN
Sie sind von Geburt an das wichtigste Tor nach außen. Am Beginn des menschlichen Lebens steht die orale Phase, eine Zeit, in der praktisch der gesamte Kontakt zur Außenwelt über die Lippen hergestellt wird. Sie besitzen einen äußerst feinen Tastsinn und größte Beweglichkeit in feinster Nuancierung.
Der äußere und der innere Lippenringmuskel bilden die äußersten Sphinkter zum Schutz der Atemwege. Bleibt der innere Lippenring auch bei großer Mundöffnung leicht kontrahiert (s. Abb. 1), ist dies das Signal für die Schutzmuskulatur weiter innen, Öffnung zu erlauben. Kollabiert er, werden sofort weitere Sphinkter (Zunge, Gaumensegel, Taschenfalten oder Stimmlippen) reflektorisch aktiviert. Um den Schutz der Lunge weiterhin zu gewährleisten, verengen oder schließen sie dann den Vokaltrakt.
Der Tonus des kontrahierten Lippenringmuskels erhöht sich während der Mundöffnung. Die Dehnungserlaubnis des Muskels leitet die Öffnung (exzentrische Kontraktion). Damit der weiche Gaumen öffnend nach oben reagieren kann, müssen die Mundwinkel die Lippenrundung koordinieren wie bei der Saugbewegung. Dann verlängert sich der Vokaltrakt auch nach unten und der Kehlkopf wird mit abgesenkt.
Diese reflektorische Verlängerung des Rachens ist auch für die Erzeugung des Sogs beim Trinken verantwortlich: Je größer das Volumen der oberen Atemwege wird, desto geringer wird der innere Luftdruck im Vergleich zur Außenluft. Bei genügend Tonus in der Unterlippe bekommt der untere Teil der Zunge auch mehr Tonus. Dadurch entsteht ein noch größere Rachendurchmesser.
Dieser erhöhte Zungentonus erleichtert dann auch die Artikulation beim Singen. Bei hochgezogener Oberlippe dagegen muss die Zunge den Kiefer aufdrücken gegen die Schließbewegung der Kaumuskulatur. Das schränkt die Artikulationsmöglichkeiten natürlich stark ein. Schließt wiederum der Lippenring zu sehr, zieht er den weichen Gaumen mit abwärts.
Es bedarf also einer fein abgestimmten Balance, um eine optimale Öffnung des Vokaltrakts zu ermöglichen. Bei der kindlichen, vom Saugreflex gesteuerten Öffnung wird dieser Vorgang noch unbewusst koordiniert, weil das Ziel die Herstellung eines möglichst optimalen Sogs ist. Aber diese Feinabstimmung ist beim Nicht-Säugling überlagert von Gewohnheiten, die vom Kauen und Sprechen herrühren.
Neuronale Impulse, die vom Lippentonus ausgehen, aktivieren auch den schützenden Stimmlippentonus. Denn mit der saugenden Mundöffnung ist der Einatmungsreflex verknüpft, um den Sog zu unterstützen und zu verstärken. Insgesamt werden 98 Muskeln und 18 Organe durch die Lippen beeinflusst.
Außerdem sind sie direkt verbunden mit dem emotionalen System. Das heißt, sowohl in den Agierenden selbst als auch im Gegenüber wird durch Lippenbewegung emotionale Aktivität erzeugt. In treffender Weise wird im Belcanto die emotionale Verbindung zwischen Lippen und Stimmlippen als „baciare il suono“ bezeichnet, „den Klang küssen“.
LUFTWEGE / LUFTDRUCKREGELUNG
Der Eingang der Luftröhre und der Bereich des conus elasticus, eines sich nach oben verjüngenden Fasertrichters, der vom oberen Rand des Ringknorpels bis zum Vocalis reicht, ist mit etwas Übung unterhalb der Stimmlippen spürbar. Die oberen Luftwege werden erkennbar über die Kühlung durch die hindurch strömende Luft: Ideal ist es dabei, dieses Kältegefühl nur an den Stimmlippen zu spüren, da es immer durch Luftwirbel aufgrund eines Widerstandes entsteht. (Jeder kennt das Bild eines Baches, der dort Wirbel bildet, wo Gegenstände den Fluss des Wassers behindern.) Jede weitere Kühlung ist also hervorgerufen durch Verspannung, Verengung und folglich Luftwirbel im Bereich des Vokaltrakts. Am weichen Gaumen entsteht sie durch Abflachung in Folge von Zungendruck.
Der Luftfluss während der Phonation ist direkt nicht wahrnehmbar. Erkennbar ist stattdessen die leichte Luftbewegung der stehenden Welle an den höchst sensiblen Schleimhäuten des Vokaltrakts. So lässt sich die Form des „Instruments“ während des Singens definieren. Die Luftwege regeln sich automatisch neurologisch vom Ventil, also den Stimmlippen aus. Die Luftdruckregelung während der Tonerzeugung beim Singen ist dominant leitend vor der Vokalbildung, sehr im Gegensatz zur Sprachgewohnheit. Der Luftfluss wird dabei über das Vibrato reguliert. Verliert man die Empfindung dafür, beginnt das System zu schließen, denn erhöhter Luftdruck sorgt für Schließtendenz. Bewegungsmöglichkeit und Tragfähigkeit werden dadurch eingeschränkt. Das Signal für Überdruck ist ein gestörtes Vibrato: Bei Überdruck wird es zu langsam mit zu großer Amplitude, oder zu schnell mit zu kleiner Amplitude.
Zwischen den Parametern Stimmlippenwiderstand, Luftdruck und Vibrato muss im Ein- und Ausatmungssystem eine feine Balance entstehen. Nach ihr richtet sich die Vokalisation. Kann die Einatmungsmuskulatur nicht genügend Weite und herstellen und aufrechterhalten, kollabiert das System. (Taucher kennen den Begriff „Hovern“: Das bedeutet die Regulierung der Luftmenge in den Lungen genau in dem Maße, dass es möglich ist, im Wasser zu schweben, ohne zu abzusinken oder aufzusteigen. Ähnlich läuft die Luftdruckregelung auch beim Singen ab.)
Verschiedene Vokale, Tonhöhen oder auch dynamische Abstufungen fordern unterschiedliche Luftdruckverhältnisse an. In die Höhe verringert sich der Luftdruck unter den Stimmlippen noch weiter, damit die äußerst differenzierten Schwingungsabläufe ungestört stattfinden können. Dasselbe gilt für massearme Vokale wie zum Beispiel „u“ und leiser werdende Dynamik.
Je weniger Luftverbrauch entsteht durch die Aktivität der Einatmungsmuskulatur während der Ausatmung, desto besser kann sie das ganze System regulieren. Die Zielsetzung lautet daher: Wie wenig Luftdruck ist ausreichend? Wie sanft ist Singen möglich? Es gilt, Luftdruckspitzen herauszunehmen. Daher ist legato Singen die funktional sinnvollste Art und Weise der Klangerzeugung.
Dabei ist es interessant, dass der subglottale Luftdruck bei Profis durchaus höher ist als der bei Laien. Die Balance zwischen Stimmlippenwiderstand und Luftdruck erzeugt dennoch eine Unterdruckfunktion.
Überdruck bewirkt, dass die Stimmlippen Masse ankoppeln und obendrein die Stimmlippenschließung von externen Muskeln verstärkt wird. Das erzeugt ein Engegefühl im Hals. Wird es zum Dauerzustand, entsteht sogar die Problematik, dass der vollständige Stimmlippenschluss „verlernt“ wird. Die Muskulatur erschlafft mit der Zeit, so dass die Stimme nur noch bei erhöhtem Luftdruck schließt.
LUNGE
Sie besteht aus etwa 30 000 000 Lungenbläschen, die angeordnet sind wie ein Netz. Die Einatmungsbewegung beginnt unten an der Lungenbasis und folgt der Erweiterungsrichtung der Rippen nach oben. Die Lungenbläschen füllen sich trotzdem überall gleichzeitig. Durch die Rückstellkraft der elastischen Bläschen entsteht subglottaler Luftdruck. Zwei Drittel des Lungengewebes befinden sich im Rücken. Daher verbreitert und verlängert die Einatmungsbewegung den Rücken von der zehnten Rippe bis zum oberen Rand der Schulterblätter.
Der Grad der Luftabgabe wird bei der Tonerzeugung durch die Stimmlippen reguliert. Dabei ändert sich das System ein wenig, wobei die Balance an den Stimmlippen im Idealfall gleichbleibt, denn die Stimmempfindung leitet diese Feindosierung durch Rückmeldung ans Gehirn. Die Bauchmuskulatur ist viel zu grobmotorisch innerviert, um so fein differenzierte Veränderungen leiten zu können.
Die Voraussetzung für lauteres Singen ist ein höherer Luftdruck in den Lungenbläschen. Er wird erzeugt durch eine größere Einatmungsbewegung. Die Erhöhung des Innendrucks entsteht durch Sog, im Gegensatz zum „Aufpumpen“ eines Hohlraums durch Druck. Durch Training der Einatmungsmuskulatur erweitert sich sukzessive das potentielle Lungenvolumen bei professionell singenden Menschen. So wird es bei ihnen bis zu ca. 85% nutzbar. (Professionell trainierte Hochleistungssportler haben dagegen nur bis zu 75% Einatmungskapazität zur Verfügung. Sänger sind Einatmungsspezialisten!) Bei untrainierten Menschen ist das Lungenvolumen bis zu ca. 50% nutzbar. Der Gesangsreflex wird aber erst ab mindestens 50% Lungenvolumen ausgelöst. Darum ist ein gewisses Training die unbedingte Voraussetzung für funktional gesundes Singen.
Hier liegt übrigens ein Grund für die überdurchschnittlich hohe Anzahl von korpulenten Menschen unter Profisängerinnen und -sängern: Durch das ständige „Gewichtheben“ bei der Atmung ist deren Einatmungsmuskulatur gut trainiert. So ist sie von vornherein imstande, die Balance zwischen Unter- und Überdruck zu halten, die für das Singen so notwendig ist.
MANGIARE LA VOCE
„Die Stimme essen“? Es handelt sich bei dieser Beschreibung einer sängerischen Wahrnehmung nicht um eine aktive Kau- und Schluckmuskulatur beim Singen, wie man vermuten könnte. Im Gegenteil, es geht um die Aktivierung von Öffnungs- und Rundungsbewegung von hinten, von der Schlundmuskulatur aus, so, als ob sie sich bereit machen würde für etwas Großes, das von außen kommt.
Der Lippenring kontrahiert in diesem Fall im Verlauf der Öffnung und Rundung während des Singens. (Für die sängerische Einatmung wird er dagegen gedehnt, um eine optimale Sogwirkung zu ermöglichen.) Durch die Kontraktion wird der Rachen- und Mundraum für die Klangverstärkung günstig gestaltet. Man könnte den Begriff vielleicht besser übersetzen mit „die Stimme einnehmen“, oder auch „die Stimme trinken“. Das Bild des singenden Fritz Wunderlich (Abb. 3) weckt diese Assoziation deutlich.
Der Begriff ist also ähnlich zu deuten wie das berühmte „Inalare la voce“, das sich auf das Gefühl von Einatmung und Saugreflex während der beim Singen erfolgenden Ausatmung bezieht.
MARKIEREN
Dieser Begriff bezeichnet einen Modus des Gesangsreflexes, die dem Belcantobegriff „sotto voce“ („unter der Stimme“) entspricht. Auch der Ausdruck „cantare piccolo”, „klein, gering singen“ gehört in diese Kategorie.
MASSEFUNKTION
Als Masse wird in der funktionalen Fachsprache die Muskelmasse des Stimmmuskels bezeichnet, also der aktiv kontrahierende und schwingende Teil unseres „Instruments“. Die Muskelkontraktion entspricht der Lautstärkeveränderung: Mehr Masse erzeugt einen tieferen bzw. lauteren Klang, weniger Masse einen höheren bzw. leiseren. Massedominanz fühlt sich etwas grober an, Dehnungsdominanz feinmotorischer. Der Schwingungsablauf der Stimmlippen ist vertikal. Die Masseankopplung entspricht demnach einer vertikalen Tonisierung: Eine dritte Muskelschicht koppelt bei crescendo und Erniedrigung der Tonhöhe vertikal von hinten nach vorne unten an die Stimmlippen an. Bei decrescendo und Erhöhung der Tonhöhe nimmt sie in der umgekehrten Reihenfolge ab. Der innere Tonus der beiden oberen Schichten bleibt bei decrescendo erhalten.
Für Masseankopplung braucht es eine Empfindung für Spannung in den Stimmlippen, denn die Masse braucht etwas, woran sie ankoppeln kann. Ihr Tonus muss zunehmen, damit mehr Masse dazukommen kann. Die leitende Empfindung dabei ist das Verhältnis Dehnung zu Masse, nicht erhöhter subglottaler Luftdruck.
Die Atmungsanteile im Rücken sind wesentlich für die Entwicklung von Masse, weil die Kehlkopfsenkung durch die Kontraktion des Zwerchfells nach hinten unten unterstützt wird. Ohne diesen „Anker“ kann der Vocalis nicht kontrahieren.
Auch beim Vokalwechsel „u-o-a“ kontrahiert der Vocalis, allerdings ohne die Länge zu verändern. Das nennt man „isometrische Kontraktion“. Der Vokal „u“ ist der masseärmste, der Vokal „a“ der massereichste. Die anderen Vokale liegen zwischen diesen beiden Extremen. Bei der Bildung von Konsonanten besteht das Risiko, dass durch Luftdruck zu ihrer Erzeugung das System zu viel Masse ankoppelt und dadurch in die Überdruckfunktion wechselt. Die Unterdruckfunktion muss also dominant genug arbeiten, um entstehende Überdruckspitzen abfedern zu können.
MEDIAKOMPRESSION
Der Begriff Mediakompression beschreibt den Grad der Schließkraft, des inneren Tonus der Stimmlippen während der Tonerzeugung. Ist er beim Aufeinandertreffen der Stimmlippen während der Schwingung vollständig, kraftvoll und elastisch, oder fließt „wilde Luft“ hindurch? Ist ein „hauchiger“ Klang wahrzunehmen, oder klingt die Stimme „klar“?
Es gibt mehrere Gründe, warum die Mediakompression unvollständig sein kann. Bei sehr jungen Stimmen ist oft die Schließkraft des Vocalismuskels noch nicht vollständig ausgebildet. Das ist besonders bei jungen Mädchen zu beobachten. Ihr Grundtonus in der gesamten Körpermuskulatur ist niedriger als bei Jungen. Außerdem verändern sich bei ihnen während der Entwicklung die Schleimhäute. Jede Frau kennt das Phänomen, dass ihre Stimme auf Hormonveränderungen reagiert. Eine weiter Ursache kann sein, dass durch zu geringe Beteiligung der Muskelmasse keine vollständige Schließung entsteht. Die Stimmlippen sind dann „zu dünn“. Damit der Vocalis aber sein ganzes Potential an Muskelmasse nutzen kann, bedarf es einer trainierten Einatmungsmuskulatur. Denn erst die vollständige Senkung des Kehlkopfs bewirkt auch eine vollständige Masseankopplung.
Das Gefühl von gutem Stimmlippenschluss ist leicht zu verwechseln mit dem Gefühl von Masse: Während diese sich „grob“ anfühlt, ist „präzise“ die Idee von Mediakompression, denn sie ist drucklos. Wer wenig Mediakompression hat, neigt oft dazu, den Luftdruck zu erhöhen, um sie zu verstärken. Damit erhöht man aber den Masseanteil, nicht den inneren Tonus.
Mediakompression wird verstärkt durch die exzentrische Kontraktion der Zwischenrippenmuskulatur. Der Vocalismuskel braucht für die Phonation genau diese sehr differenzierte Schließung. Eine Entsprechung dazu findet sich beim Vorgang des Räkelns: Auch da schließen die Stimmlippen, um das nach innen Fließen der Luft zu verhindern und so eine noch intensivere exzentrische Kontraktion der Einatmungsmuskulatur zu ermöglichen.
Darin liegt vielleicht ein Grund für das nach Beendigung von Fortetönen gelegentlich gehörte „Nachächzen“: Durch den hohen Tonus in der antagonistisch arbeitenden Muskulatur wird bei plötzlichen Beendigung der Schwingung ein Geräusch hörbar aufgrund einer Irritation im Druckausgleich. Auch intensives Räkeln wird ja meist mit einem Seufzer der Entspannung abgeschlossen. Wird die Grundspannung in der Zwischenrippenmuskulatur angehoben, erhöht sich auch die Mediakompression.
Bei idealer Mediakompression berühren sich aufgrund des Spannungszustands im Stimmmuskel während der Schwingung nur die Schleimhäute, nicht die Ligamente. In der Schleimhaut befindet sich das neurologische System, das den Vokaltrakt regelt und stabilisiert. So wird eine noch feinere Wahrnehmung und Differenzierung des Schwingungsgeschehens möglich.
Das Phänomen, dass die Stimme „nicht schließt“, tritt ausschließlich bei Stimmerkrankungen auf. Schleimhautschwellungen, aber auch Lähmungen von Muskelfasern des Vocalis sind häufige Ursachen dafür. Die Hauchigkeit aufgrund von mangelndem Tonus gehört nicht dazu. Sie ist durch funktionales Gesangstraining gut in den Griff zu bekommen.
MESSA DI VOCE
Wörtlich übersetzt heißt das „die Stimme setzen“: Für das, was damit gemeint ist, passen andere Synonyme des italienischen Begriffs eigentlich besser, wie zum Beispiel „die Stimme aufbauen“ oder „die Stimme verstärken“. Es beschreibt ein An- und Abschwellen der Lautstärke ohne Änderung der Tonhöhe. Bei einiger Übung ist es möglich, zu fühlen, wie die Masse dabei mehr bzw. weniger wird, und wie der Raum im Vokaltrakt darauf reagiert. Für ein Anwachsen der Lautstärke kontrahiert der Vocalis isometrisch, spannt sich also an, bleibt in der Länge aber gleich. Der äußere Kehlkopfmuskel hält dagegen. Durch einen neurologischen Impuls gibt infolge des crescendos der Vokaltrakt nach und wird weiter. Der subglottale Luftdruck steigt leicht an, weil wegen der sich vergrößernden Muskelmasse mehr Luft durch die Stimmlippen fließt. Die Ausatmungsmuskulatur reagiert nur auf die sich verändernden Bedingungen, statt sie durch Druckerhöhung zu erzwingen.
Das ist ein höchst komplexer Vorgang und erfordert eine optimal trainierte Atmungs- und Stimmmuskulatur. Umgekehrt wird sie durch „messa di voce“ optimal trainiert, vergleichbar dem Hanteltraining für Bizeps und Trizeps. Das ist der Grund, warum diese Fertigkeit in der Belcantopraxis seit jeher als Hohe Schule des Gesangs gilt.
MEZZA VOCE
Ursprünglich, in der italienischen Belcantolehre, bedeutet dieser Begriff, dass beide Anteile des Stimmklangs, der dunkle und der helle, in jeder Dynamik erhalten bleiben. Er lässt sich also frei übersetzen als „halb-halb-Stimme“. Heute wird der Ausdruck anders verstanden: Bei der „mezza voce“, dem Singen mit „halber Stimme“, das naturgemäß leiser ist als das Singen mit voller Stimme, wird nur ein Teil der Massekapazität des Vocalismuskels benutzt. Dazu ist eine noch feinere Abstimmung zwischen Unter- und Überdruck an den schwingenden Stimmlippen nötig durch eine noch feiner justierte Balance zwischen Ein- und Ausatmungsmuskulatur. Vergleichbar ist diese Muskelkoordination mit der von sehr langsamem Absenken eines sehr schweren Gegenstandes, bei der die hebende Muskulatur immer die Kontrolle über die Bewegung behält.
Diese Stimmfunktion ist nur im Tonraum zwischen a und a` möglich. Sie wird von manchen Gesangsschulen als „Mittelstimme“ oder „Mittelregister“ bezeichnet. Nur da besteht eine Wahlmöglichkeit zwischen Masse- und Dehnungsdominanz. Das Stimmfach Tenor ist also prädestiniert für dieses besonders kunstvolle Ausdrucksmittel.
MIMIKMUSKULATUR
Die mimische Muskulatur besteht aus 22 Muskeln. Sie sind im Gegensatz zu den allermeisten Muskeln im menschlichen Körper keine Gelenksmuskeln. Ihre Funktionen sind vor allem Schutz und emotionale Kommunikation. Die tiefe Schicht der Mimikmuskulatur reagiert autonom und kann nicht bewusst angesteuert werden. Von der Bereitschaft dieser Muskulatur, sich dehnen zu lassen, ist der Vokaltrakt abhängig in seiner Formbarkeit, denn Mimikmuskulatur ist im Wesentlichen schließende Muskulatur. Ein entspanntes Gesicht zeigt keine Mimik. Stirnrunzeln etwa ist eine nach oben verkürzende Bewegung: Die Kontraktion der Stirnmuskulatur erzeugt eine Haltung gegen die Zunge, so dass sich im Gegenzug der weiche Gaumen absenkt und Zungendruck entsteht. Zornesfalten bewirken eine Schließung der oberen Atemwege. Das alles hat evolutionäre Gründe. Die entsprechenden Emotionen sind ursächlich damit verbunden. Sie sind es ja eigentlich, die diese mimischen Varianten auslösen. Die schließende Muskulatur, also Kaumuskulatur, Schluckmuskulatur, Stirn- und Augenringmuskulatur muss also erlauben, gedehnt zu werden, sonst behindert sie die Öffnung des Vokaltrakts. Allgemein kann gesagt werden: Jeder Versuch einer Öffnung über die Mimikmuskulatur bewirkt das Gegenteil: Er zieht das System zu.
Die Wirkung des Gesichtsausdrucks auf die Stimmgebung ist schon sehr lange bekannt. Schon Heinrich Schütz schreibt in seiner berühmten Schrift „Singe-Kunst oder Manier“ über die erwünschte bzw. unerwünschte Mimik eines Sängers: „Er soll die Zähne nicht zusammenschließen, noch den Mund zu weit aufthun, noch die Lippen aufwerfen, noch den Mund krümmen, noch die Wangen und Nasen verstellen wie die Meerkatzen, noch die Augenbrauen zusammen schrumpfen, noch die Stirn runtzeln, noch den Kopf oder die Augen darinnen herumdrehen, noch mit denselben blintzeln, noch mit den Lefzen zittern etc.“
Mit jeder physiologischen Bewegung steht ein emotionaler Ausdruck in Verbindung. Ziel für das funktionale Singen ist eine „gelöste“, „angstfreie“ Mimik, ein „offener“ Blick wie bei einem Säugling. Lächeln wird erst erlernt, wenn die öffnende Saugmuskulatur für die Aufnahme von fester Nahrung zeitweise durch die Tätigkeit schließender Muskulatur ersetzt wird. Eugen Rabine empfahl diesbezüglich, gerne vor und nach dem Singen freundlich zu lächeln, aber nicht währenddessen.
Bei Stress schließt die Mimikmuskulatur in der Schutzfunktion. Dann detoniert der Klang nach oben, weil die tiefe Schwingung weggedämpft wird. Deshalb ist es für hohe Stimmen elementar wichtig, sich gerade beim Singen hoher Frequenzen sicher zu fühlen, damit die vollständige Öffnung der Klangräume auch unterbewusst erlaubt werden kann.
Durch Berührung kann man die Mimikmuskeln entspannen, neuronal beruhigen, indem man den Gesichtsnerven Reize zufügt, besonders am sogenannten Modioluspunkt, einer Kreuzung der beiden Gesichtsnerven Trigeminus und Facialis. Dann wird es möglich, dass die Gesichtsmuskulatur der Rundung und Tonisierung der Constrictoren von unten nach oben folgt und den Vokaltrakt dehnend mit formt. Klangliches Ergebnis ist eine „runde“ Stimme im Unterschied zu einer „flachen“, „spitzen“ oder „engen“ Stimme.
MISCHUNG
Funktional spricht man von einer koordinierten Stimme statt einer gemischten Stimme, da das Monochord Stimme nur eine Funktion mit zwei Komponenten besitzt, nämlich Masse und Dehnung. Sie sind aber immer gleichzeitig vorhanden in unterschiedlichem Verhältnis zueinander.
MUNDÖFFNUNG / KIEFERÖFFNUNG
Die Öffnung des Kiefers (s. Abb. 1,2 und 3) ist ein höchst komplexer, mit zahlreichen Schutzmechanismen und fünf Sphinkteren ausgestatteter Vorgang. Da der Mund der Eingang zu dem überlebenswichtigen Organ Lunge ist, ist die Mundöffnung ein unbewusstes Grundprogramm im Gehirn. Jede Phase der Mundöffnung hat eine neurologische Bedeutung. 89 Muskeln und 18 Organe werden dabei und davon aktiviert: Neurologische, neurophysiologische, akustische und muskuläre Ketten und deren Hierarchien untereinander leiten den Bewegungsablauf. Die Art der Mundöffnung beeinflusst die gesamte Mundraummuskulatur, den Vokaltrakt, den Atemapparat und das Körperhaltungssystem.
Konkret sind es aber nur zwei schwache Muskeln, die die Öffnung des Kiefers bewirken. Sie befinden sich am Mundboden. Bevor sie aktiv werden, wird der Unterkiefer „schlittenartig“ durch die Kontraktion zweier Muskeln rechts und links vor den Ohren und der Lippenringmuskulatur nach vorne gezogen. Das ist eine Bewegung ähnlich wie beim Saugen durch ein enges Rohr. Dadurch bewegt er sich erst waagerecht nach vorne, dann sogar leicht nach oben wegen der Form des Kiefergelenks. Auch das entspricht der Saugbewegung. Sobald die Form des Gelenks es erlaubt, nähert der Unterkiefer sich wie ein Scharnier in sichelförmigem Bogen dem Kinn bis zu einem kleinen Widerstand. Will man weiter öffnen, muss die Zunge den Kiefer aufdrücken. Die unerwünschte Folge davon ist Schließung der Luftwege durch den nach hinten gedrückten Zungenrücken.
Im Gegensatz dazu wird die sogenannte Schnute durch Muskelschlingen gebildet, die zur schließenden Muskulatur gehören (vgl. die Abwehrlaute der Schimpansen!): Der Lippenringmuskel schiebt die Lippen vor. Das ist ein anderes Programm als das des Rundens beim Saugen.
Bei der sängerischen Mundöffnung wird der Unterkiefer nur von der Mundbodenmuskulatur zurückgezogen: Die Öffnungsbewegung beginnt vorne. Wenn die Öffnungsbewegung von hinten beginnt, ist sie durch Zungendruck gegen den nicht genug nachgebenden großen Kaumuskel zustande gekommen.
Die Qualität der vorderen Mundöffnung bestimmt die Qualität der Öffnung der Luftwege.
Sie bestimmt, welche Einatmungsmuskeln aktiv werden und damit auch die Qualität des erzeugten Tones. Je weniger Widerstände bleiben, desto störungsfreier kann die Atemluft durch den Vokaltrakt „einfallen“, und desto optimaler vorbereitet ist er dann auch. Ohne Schließimpuls braucht der Atemapparat weniger Energie für die Einatmung. Aus diesem Grund wird beim Gesangreflex die Öffnungsbewegung vom Stimmventil geleitet. Die Zunge folgt nur und kontrahiert nach vorne wie beim Saugen.
Die Dehnung des Lippenrings ist über den Saugreflex verschaltet mit der Einatmung: Sie triggert die Einatmungsmuskulatur. Atmet man auf „u“ ein, das heißt, mit kontrahierter innere Lippenringmuskulatur bei gleichzeitiger Mundwinkelaktivität, entsteht ein Impuls im Rücken (fünfte bis siebte Rippe) und unter den Armen, den Mund zu öffnen. Von da an wird neurologisch die Atmung gesteuert, sofern die Bauchmuskulatur nicht angespannt ist. Der Bauch wird dadurch breiter. Das ist die Einatmung zur Erzeugung eines Sogs.
Dazu ist es notwendig, dass die Kieferöffnung über Unter- und Oberkiefer gleichmäßig verteilt ist, wobei der Oberkiefer den gesamten Schädel mit einschließt. Daher ist das Drehgelenk des „Oberkiefers“ der Atlas Axis im Nacken. Eine so organisierte Kieferöffnung bewirkt zwei Drittel der Kehlkopfsenkung. Auch beim Trinken wird auf die gleiche Weise der nötige Unterdruck erzeugt. Sobald für eine noch größere Mundöffnung die Zunge den Unterkiefer aufdrückt, verengt der hintere Zungenrücken zum Schutz vor dem Eindringen von Fremdkörpern den Racheraum. Die Zunge wird breit, und es kann kein Sog mehr erzeugt werden. Außerdem hat bei zu weiter Mundöffnung der Lippenring zu wenig Spannung.
Das ist nicht zuletzt auch ungünstig für die Dehnung der Mund- und Rachenschleimhäute, die den Resonator auskleiden, also für die Klangverstärkung. Die Obergrenze von höchstens vier Zentimetern für den vorderen Zahnreihenabstand gilt auch für große Höhe und Lautstärke. Eine zu weite Kieferöffnung zieht obendrein eine Überbetonung der Oberlippe sowie eine (Schutz)-Schließung des weichen Gaumens und der Constrictoren nach sich. (Deswegen entstehen die schnarchenden Geräusche beim Gähnen oder Schlafen.)
Bei der Artikulation liegt bei den Vokalen „a“ und „o“ der Schwerpunkt auf der vertikalen „Scharnierfunktion“, bei „u“, „e“ und „i“ auf der horizontalen „Schlittenfunktion“. Bei letzterer verläuft auch die Dehnung der Stimmlippen horizontaler, was die Dehnungsfunktion begünstigt. Bei der Artikulation „u-o-a“ vergrößert sich infolge exzentrischer Kontraktion die Mundwinkelaktivität. Die Constrictoren runden, der weiche Gaumen, der obere Constrictor und alle Sphinkter dehnen nacheinander durch ein biologisches Programm. Am Ende dieses Bewegungsablaufs steht das Nachgeben des Schläfenmuskels bei Öffnung in Richtung sängerisches „a“. Bei alledem ist die Lippenrundung die dominante Wahrnehmung.
Eine Mundöffnung von etwa zwei Fingerbreit erlaubt auch der Zunge mehr und störungsfreiere Bewegung. Das begünstigt die sängerische Artikulation im Einatmungsmodus. Der Grad und die Form der Mundöffnung weist für die Tonerzeugung in verschiedenen Tonlagen Unterschiede auf. Es ist nicht uneingeschränkt möglich, verbindliche Angaben darüber zu machen, die für alle Stimmfächer gleichermaßen gelten. Vergleichbar ist optimale Mundöffnung daher nur für die entsprechenden Tonlagen, unabhängig davon, welches Stimmfach die oder der Singende hat. Für den stimmfachübergreifenden Unterricht ist es wichtig, diesen Sachverhalt zu beachten.
Zusammenfassend kann man sagen: Die sängerische Mundöffnung ist eine erweiterte Komplexfunktion der Grundfunktion Einatmung. Die Luftwege formen den Resonator, das Ventil öffnet sich, so dass der Vibrator, der Vocalis, ein intaktes „Instrument“ zur Verfügung hat.
MUNDRAUM
Die Resonanz des Mundraumes ist symptomatisch für unwillkürliche Laute, übrigens auch die von Tieren, und die Sprachgewohnheit. Der originale Vokaltraktklang wird dabei gebrochen. Auffällig ist in diesem Zusammenhang die Vokalisation von reflektorischen Lautäußerungen und ebenso ihre deutschen Bezeichnungen: Wir sagen zum Beispiel „Niesen“, „Husten“, „Rülpsen“, „Würgen“ und „Gähnen“. Die Liste ließe sich noch weiter fortsetzen. Diese Ausdrücke sind in Bezug auf die verwendeten Vokale und Konsonanten alle angelehnt, mit Sicherheit sogar abgeleitet von der entsprechenden Form des Mundraumes bei ihrer Entstehung.
NASE
Caruso zugeschrieben. Die Nase ist ausgestattet mit drei verschiedenen Nasengängen. Der oberste führt über das Riechorgan. Für die Ruheatmung wird der unterste benutzt, denn er ist der direkte Weg zur Luftröhre. Dabei werden keine Reflexe aktiviert. Wir nutzen diesen Atemweg vor allem für den Schlafmodus. Beim Riechen wird der oberste Atemweg benutzt: Der Beginn des Riechens ist die Öffnung dieses oberen Bereichs. Er findet statt noch ohne Zwerchfellaktivität, also ohne dass Luft in den Körper gesaugt wird.
Riechen ist auch die Vorstufe für eine Aufnahme von Flüssigkeit bzw. Nahrung. Das bahnt die Rundung zur Vorbereitung des Saug- oder Schluckvorgangs an und sorgt für die nötige differenzierte Bewegungsfähigkeit der Zunge. Beim Riechvorgang hebt sich der obere Teil der Zunge, und der Raum zwischen Rachenwand und Zunge erweitert sich minimal. Das ist die einzige Möglichkeit, auch den weichen Gaumen „willentlich“ zu heben: Über die Vorstellung des Riechens wird unbewusst die Hebung ausgelöst. Sie ist verknüpft mit der des Schmeckens und damit der Aktivierung der Zungenspitze und dem „Spitzen“ der Lippen.
Die sängerische Einatmung erfolgt daher anfangs durch die Nase und anschließend durch Mund und Nase. Ab etwa zwei Zentimeter Mundöffnung schließt das Gaumensegel reflektorisch. Es bedarf einer Spannung der Zunge im Bereich des Zungenbeins, um das zu verhindern und weiterhin durch Mund und Nase einzuatmen. Der Grund dafür ist, dass bei geöffnetem Mund die Nase von anderen Muskelgruppen geöffnet wird als bei geschlossenem Mund. Das verengt dann aber den Rachenraum. Deshalb ist es zur Vorbereitung der sängerischen Klangproduktion nicht geeignet. Durch den Schließreflex des weichen Gaumens erfolgt ab da reine Mundatmung mit gedehntem oberem Atemweg.
Reine Nasenatmung, besonders forcierte, bewirkt einen Verschluss im gesamten Atemsystem. Der Kehlkopf sinkt nicht. Ein anderes Programm der Einatmung mit anderen Präferenzen ist aktiv. Der Raum nicht gestaltet, daher bleibt die tiefe Frequenz schwach. Das Resultat im entstehenden Klang ist die näselnde Frequenz, der dritte Formant, bei etwa 2500 Hz.
„Nasalität“ ist das deshalb Gegenteil von „Kopfigkeit“, die sich durch sehr hohe Frequenzen auszeichnet. Sie entsteht durch Zungendruck und die flache Position und Passivität des weichen Gaumens als Reaktion darauf. „Näseln“ ist eher ein Phänomen von höher gelagerten Stimmen. Tiefere haben mehr Masse, so dass die sogenannte Näselfrequenz nicht so zum Tragen kommt. „Näseln“ aber verhindert die Ankopplung von Masse. Es ist übrigens sogar möglich, dass näselnde Frequenzen von Instrumenten, zum Beispiel der Viola, ansteckend wirken!
BELCANTOBEGRIFFE UND FACHAUSDRÜCKE FUNKTIONAL ERKLÄRT O - S
ÖFFNUNG
Singen wird getriggert durch Öffnung wie bei der Einatmung statt durch Schließung wie bei der Ausatmung. Öffnung entsteht durch Verlängerung und Erweiterung des Vokaltrakts. „Offenes“ Singen bedeutet daher Singen mit gesenktem Kehlkopf und offenen Vokalen: Die Zunge ist schmal und befindet sich vorne oben, wie beim Saugen. Dadurch ist der Rachendurchmesser vergrößert. So wird die sängerische Vokalisation erst möglich. Auffällig in diesem Zusammenhang sind auch die Vokale in den entsprechenden Begriffen: wir sagen „offen“ und „öffnen“, aber „zu“ und „schließen“: Im ersten Fall werden öffnende Vokale verwendet, im zweiten schließende.
„Gähn-Öffnung“ dagegen wird erzeugt durch Zungendruck auf Kiefer und Kehldeckel. Dadurch verengt die Zunge aber den Rachendurchmesser. Masseankopplung, also Erhöhung der Lautstärke oder Singen in tiefer Lage ist dann nur noch sehr eingeschränkt möglich. Bei zu schneller Atemgeschwindigkeit im Verhältnis zur Öffnung, wie es beim Gähnen der Fall ist, reagiert das System zum Schutz mit reflektorischer Schließung. Darum entsteht dabei immer ein keuchendes oder röchelndes Geräusch.
Bei der funktionalen, sängerischen „a“- Öffnung dagegen, bei der in den Mundwinkeln eine Restkontraktion bleibt, gibt es keine Schließreaktion mehr. Jeder Widerstand fällt dann weg und damit auch die gewohnheitsmäßige Orientierung, die sich nach der Empfindung von Widerstand ausrichtet. Das heißt, optimale funktionale Einatmung ist nicht mehr als solche wahrnehmbar.
Eine große Öffnung der oberen Luftwege löst reflektorisch eine Emotion des Ungeschütztseins, der Angst aus, solange die Bewegungsbereitschaft der gedehnten Stimmlippen nicht den Schutz der Lunge gewährleistet. Ist das aber der Fall durch die optimale Kehlkopfsenkung und Stimmlippendehnung, wird diese kinetische Energie vom System als viel effektiverer, weil differenzierterer Schutz registriert. Es ist leicht vorstellbar, dass die extrem schnellen Öffnungs- und Schließbewegungen der tonisierten, aktiven Vocalismuskulatur und des gedehnten Ligaments wesentlich zuverlässiger ein Eindringen von Fremdkörpern in die Atemwege verhindern als die statische Schließung nur durch die Kontraktion.
OHR
Hören ist neuronal dominant und entwicklungsgeschichtlich früher als Sehen. Früher als die Fähigkeit zu hören, entwickelt sich im Mutterleib nur die kinetische Wahrnehmung. Erst wird Schall empfunden, dann lernt man ihn hören. Hören ist zudem wesentlich älter als Singen.
Funktionales Hören ist eine Spezialform des Hörens. Beim Singen wird hauptsächlich der Knochenklang über das Innenohr wahrgenommen. Das linke Ohr hört mehr den unteren Vokalformanten, die „tiefe Schwingung“, das rechte mehr den oberen Vokalformanten, die „hohe Schwingung“. Der Klang wird immer genau zwischen beiden Ohren wahrgenommen, unabhängig von dem Verhältnis Massefunktion zu Dehnungsfunktion. Der Grund für die unterschiedliche Hörwahrnehmung ist die unterschiedliche Reizleitung vom Gehirn: So wie ein Auge mehr Rottöne und das andere mehr Grüntöne wahrnimmt, hört das linke Ohr mehr mittlere und tiefe Frequenzen, und das rechte mehr mittlere und hohe Frequenzen. Das erklärt die bei Sängerinnen und Sängern verbreitete Schiefstellung der Mundöffnung nach links bzw. rechts, je nach gewünschtem Hörerlebnis. Es ist auch eine Erklärung für manche Intonationsprobleme: Wer zu hoch singt, bei dem ist eventuell der linke Gehörgang verstellt. Bei wem der rechte nicht offen ist, der neigt eher zum zu tief Singen.
Das interne Gehör muss so trainiert werden, dass es dominant reagiert vor der äußeren Hörwahrnehmung. Hörsensibilitat übt einen entscheidenden Einfluss auf die Tonproduktion aus. Bei optimaler Kehlkopfsenkung ist die Zungenschleimhaut als vordere Membran stark gedehnt. Dann ist der innere Klang sehr gut hörbar.
Lautstärke über das äußere Ohr zu regeln ist problematisch. Die Information für die Umsetzung durch die Stimmlippen kommt dann zu spät.
Oft sind an der Sprachgewohnheit orientierte Menschen auf den zweiten Vokalformanten fokussiert. Ohne ersten Formanten ist es allerdings unmöglich, differenziert zu hören. Im Gegensatz zur Sprachgewohnheit es ist beim Singen elementar wichtig, die tiefe Frequenz im Vokal zu akzeptieren. Wird der Grundton nicht wahrgenommen, weiß das Nervensystem nicht, wie es sich einstellen soll. Orientiert man sich am zweiten Formanten, wird dadurch die Stimmlippenregelung gestört. Dann wird das System zum Überdrucksystem.
Infolge der Hebung des weichen Gaumens öffnen sich durch die Dehnung der Kiefermuskulatur die Eustachischen Röhren, ähnlich wie beim Gähnen. Es ist wichtig, dass die Öffnungs- und Artikulationsbewegungen sie freigeben. Nur so kann der Schall im Vokaltrakt ungedämpft zu den Trommelfellen dringen. Das ist nur bei guter Kehlkopfsenkung und Unterdruckfunktion der Fall. Bei Überdruckfunktion bleiben die Eustachischen Röhren geschlossen.
Männer haben übrigens eine andere Hörwahrnehmung als Frauen, weil beide sich vom Grundton und den Teiltönen her an ihrer Sprechlage orientieren. Die Hörerfahrungen zu vergleichen, kann also leicht zu Missverständnissen führen. Beim Singen verlässt man sich daher am besten auf die kinästhetische Wahrnehmung.
Das Ohr ist viel empfindlicher für hohe Klänge wegen unserer angeborenen Präferenz für das Hören von Babylauten. Die besondere Schalltrichterform der menschlichen Ohrmuschel verstärkt genau diesen Frequenzbereich. Das Impedanzminimum des Mittelohrs liegt bei 3000, 5000 und 8000 Hz, also genau in den Frequenzbereichen der Sängerformanten. Schnelle Schwingungen lösen deutliche kinästhetische Reaktionen im Trommelfell aus. Die Folge davon ist hohe Tragfähigkeit. Das Hören von sehr hohen Frequenzen kann sogar eine Heilung und Energetisierung des Gehirns bewirken. Die Redensarten „einen Vogel haben“, „bei jemandem piept es“ oder „Grillen im Kopf haben“ können als Hinweis auf den Zusammenhang zwischen psychischen Schwierigkeiten und hohen Frequenzen gedeutet werden.
Für das Singen von sehr hohen Tönen ist es wichtig zu wissen, dass sich das Ohr bei großer Lautstärke durch eine das Mittelohr verengende Reflexbewertung schützt. Das bedeutet: Ist der Schall hoher Töne wirklich intensiv, hört sich die Sängerin oder der Sänger von innen leiser. Hört man sich selbst laut, ist die Klangverstärkung im Vokaltrakt nicht optimal. Der erzeugte Ton ist dann nicht tragfähig.
PASSAGGIO
Als "Passaggio" bezeichnet man die Register- bzw. Segmentwechsel, die aus akustischen und muskulären Gründen etwa alle neun Halbtöne auftreten, so bei ca. es`/e`/f`, a`/b´/h`, es``/e``/f``, a``/b``/h`` und d```/es```.
PFEIFREGISTER
Das ist eine Funktion der Stimmlippen, die ab g``` einsetzt, aber auch schon in etwas tieferer Lage, ab ca. d``` angewendet werden kann. Dabei existiert keine Stimmlippenschwingung und somit auch keine Regelfunktion der Stimmlippen, sondern die Tonhöhenregelung erfolgt über Modifizierung des Vokaltrakts.
PORTAMENTO
Damit ist ein Glissando gemeint, bei dem keine Vibratodämpfung stattfindet. Die Folge davon ist ein Gleiten der Tonhöhe mit hörbarer Vibratoschwingung. Sie unterteilt das Glissando in etwa drei Teiltonschritte pro Ganzton. Echtes „portamento“ ist nur in einer bestimmten Geschwindigkeit möglich, denn die Frequenz von gesundem Vibrato liegt zwischen 5 und 7 Hz.
Im Belcanto heißt diese Funktionsweise der Stimme auch „il ponticello“, „die kleine Brücke“. Damit wird die unaufhörliche Verbindung der einzelnen Tonfrequenzen durch die fortlaufende ungestörte Stimmlippenschwingung beschrieben. „Wer il ponticello nicht zu schlagen versteht, der weiß nicht zu singen.“ (Franziska Martienssen-Lohmann, S. 296)
RANDSCHWINGUNG / RANDSTIMME
Dieser Pseudo-Fachbegriff meint die Schwingung des Ligaments, das den Vocalismuskel umschließt. Diese Schwingung ist aber nie isoliert vom schwingenden Stimmmuskel, außer in pathologischer Form durch zu viel Überdruck.
RAUM
Raum ist immer proportional zur Rundung. Das größtmögliche Volumen hat die Kugel, die größtmögliche Fläche die Kreisform. Raum im Vokaltrakt kann man nicht herstellen, nur erlauben. Bei geöffnetem Raum wird die Artikulation leicht.
Ein falsches Raumgefühl kann mit Hilfe der Zunge suggeriert werden, indem man damit den Unterkiefer hinunter drückt. Dabei entsteht ein größerer Mundraum, aber der für die Klangentwicklung ungleich wichtigere Rachenraum wird gleichzeitig vom Zungenrücken verlegt.
REGISTER
Das menschliche „Instrument“ ist ein Einregisterinstrument mit zwei Komponenten, nämlich Masse und Dehnung. Das ist ein physiologisches, an der Stimme orientiertes System. Beteiligt daran sind die Stimmlippen und der Ring- Schildknorpelmuskel. In Richtung massedominantes Register, für tiefere Töne, erfolgt die Tonhöhenregelung durch Kontraktion und Tonisierung des Vocalis, in Richtung dehnungsdominantes Register, in die Höhe, durch seine Dehnung durch den äußeren Kehlkopfmuskel. Ab etwa fis`` ist der Vocalis vollständig gedehnt. Er leistet dem Kehlkopfkipper keinen Widerstand mehr, denn es ist keine Muskelkontraktion mehr vorhanden.
Der Ort der Schwingung beim dehnungsdominanten Register fühlt sich „höher“ an, Denn hohe Frequenzen werden infolge der akustischen Verhältnisse im Vokaltrakt im weichen Gaumen verstärkt. Außerdem sind die Stimmlippen dünner und haben keinen „Bauch“. Aus den gleichen Gründen entsteht eine ähnliche Wahrnehmung bei den dehnungsdominanten Vokalen „u“ und „i“. Die tiefen Frequenzen im massedominanten Register werden im Brustbereich verstärkt. Der Stimmmuskel verdickt sich dabei nach unten. Darum empfindet man diese Klänge als „tiefer“.
In der Übergangsoktave von a bis a` ist es sowohl Männern als auch Frauen möglich zu entscheiden, ob sie im masse- oder im dehnungsdominanten Register singen. Das ist in etwa vergleichbar mit der Möglichkeit, auf einem Streichinstrument die gleiche Tonlage entweder auf einer dickeren oder auf einer dünneren, dafür aber stärker gespannten Saite zu spielen. Die Klangergebnisse unterscheiden sich in der helleren bzw. dunkleren Klangfarbe. Nur in dieser Oktave ist auch ein echtes „mezza voce“ möglich, eine Masseabgabe um die Hälfte.
Andere Registerbezeichnungen wie Strohbass bzw. Schnarrregister oder Vocal Fry, Falsett und Pfeifregister beschreiben keine echten Register, sondern spezielle Teilfunktionen der Stimmgebung, die bei der funktional gesunden Klangerzeugung nicht benutzt werden.
REGISTERDIVERGENZ
Das ist eine „Registertrennung“ durch Störungen im Schwingungsablauf: Der Schließreflex der Stimmlippen verhindert dabei eine Gleichzeitigkeit der Schwingung von Stimmmuskel und Ligament.
RESONANZ
Die Primärresonanz entsteht im Vestibül direkt über den Stimmlippen. Das ist die „tiefe Schwingung“. In dem Bereich, wo der zweite Vokalformant in Resonanz zum Vokaltrakt geht, bildet sich eine Sekundärresonanz. Das ist die „hohe Schwingung“ unter dem gehobenen weichen Gaumen.
Die Resonanz direkt über dem Kehlkopf wird von den Stimmlippen als Luftvibration wahrgenommen. Das verstärkt ihre Bewegungsbereitschaft, denn sie sind ja primär ein Schutzventil für die unteren Atemwege. Ein offener unterer Resonator, durch den diese Verstärkung erst möglich wird, ist also von großer Bedeutung für das Volumen des erzeugten Klanges .
Nur bei den Vokalen „e“, „i“, „ö“ und „ü“ entsteht eine Teilresonanz durch Brechung der stehenden Welle: Die obere Schwingung teilt sich auf in die „hohe Schwingung“ und einen dritten Schwingungsknoten, den „Vordersitz“ am harten Gaumen.
RESONATOR
Im Moment des Einsatzes wird aus dem Atemweg ein Resonator. Er besteht aus zwei Teilen, einem unterhalb und einem oberhalb der Zunge.
Auch der Innenbereich des Kehlkopfs ist ein Resonator, ebenso der Raum um den Kehlkopf herum. Dieser muss fünf bis sieben Mal größer sein als der Kehlkopf und der Kehlkopf muss gesenkt sein, damit der erste Vokalformant entstehen kann. Beim Sprechen ist er aber eher geschlossen.
Um die Differenzierung der Vokalfarben zulassen zu können, muss der Resonator beweglich sein: Bei der Phonation wird ein Teil des Klangspektrums in den Resonator geschickt. Je nachdem, wie er gestaltet ist, werden bestimmte Frequenzbereiche verstärkt. Im dehnungsdominanten Register ist eine besonders feine Differenzierung zwischen Resonator und Stimmlippenschwingung möglich.
Ein kleiner Teil der Schallwellen wird auch nach unten in die Luftröhre reflektiert. Das ist möglich, weil die Geschwindigkeit der Schallwellen größer ist als die der beim Singen ausströmenden Luft, obwohl es während der Ausatmung stattfindet.
Der Vokaltrakt ist auch ein Reflektor. Er reflektiert die Schallwellen zurück auf die Stimmlippen. Sie sind evolutionär dafür geschaffen, bei der geringsten Störung reflektorisch zu schließen, zumindest aber ihre Schließbereitschaft zu verstärken. Auf diese Weise entsteht eine spürbar einrastende Rückkopplung der harmonischen Schwingung. Wie bei jeder Rückkopplung bedeutet das eine sich potenzierende Erhöhung der Grundlautstärke. Hier liegt ein Grund für die immense Tragfähigkeit der menschlichen Stimme.
RHYTHMUS
Der lebendige Körper ist in vielerlei Hinsicht ein „Rhythmusinstrument“: Das zeigt sich im Zeitablauf der Jahre, in dem Wachstums- und Heilungsprozesse ablaufen, im Zyklus der Jahreszeiten und Monate (Menstruation), in Phänomenen, die den Tagesrhythmus wie Schlaf- und Wachphasen oder Stoffwechselvorgänge betreffen, vor allem aber auch im Bereich der rhythmisch organisierten Körperabläufe wie Atmung und Herzschlag bis hin zu Muskelkontraktionen und Nervenaktionen. Auch Bewegungen verlaufen idealerweise rhythmisch, wie beispielsweise Gehen und Laufen. Selbst die Pupillen weiten und verengen sich genau im Rhythmus der wahrgenommenen Laute. Ein Zitat von Eugen Rabine belegt, dass er Rhythmus als grundlegende Basis für Alles betrachtete, und natürlich auch für die Funktion des Singens: „Das Wahrhaftige ist die Urkraft und Urbewegung, das heißt Rhythmus.“ (Renate Rabine, „Die theoretischen Werke von Eugen Rabine“, S.7)
Rhythmusgefühl ist uns angeboren: Schon Neugeborene können den Rhythmus von Musik wahrnehmen. Bald strampeln sie auch im Takt dazu. Der Drang, sich zu Musik zu bewegen, besteht bis ins hohe Alter.
Auch Sprache folgt einem bestimmten Rhythmus: Das Satzende wird im Deutschen mit einer Pause markiert, zusammengehörige Silben werden anders betont als voneinander getrennte. Die Fähigkeit, sich zum Rhythmus von Sprache synchron zu bewegen, sagt sogar den Spracherwerb von Kindern vorher. Neurobiologisch ist das naheliegend, denn das auditorische System hat sich aus dem Gleichgewichtssystem entwickelt. Viele Nervenfasern des Gleichgewichtssystems reagieren unmittelbar auf auditive Reize. Sie feuern und können zu reflexhaften Bewegungen der Arme und Beine führen. Denn die Neuronen, die im Gehirn unmittelbar auf rhythmische Stimuli reagieren, sind mit Nervenfasern verknüpft, die bis in die Beine und Arme reichen.
Auch die inneren Organe sind damit verbunden, etwa Herz und Stimmlippen, die ja im embryonalen Stadium aus derselben Keimzelle hervorgegangen sind. In Hirnscans wird offensichtlich, dass rhythmische Stimulation durch Musik die motorischen Areale auch dann bewegt, wenn der Proband still im Magnetresonanztomographen liegt. Nur in unserer Kultur gibt es das merkwürdige Phänomen, dass Menschen still dasitzen und Musik und Tanz konsumieren. Andere, vor allem afrikanische Kulturen, haben nicht einmal verschiedene Wörter für Tanz, Sprache und Musik.
Das Gehirn synchronisiert sich mit Sprache und Musik. Gesprächspartner imitieren den Takt der Worte ihres Gegenübers und versuchen unterbewusst, dessen Rhythmus beim abwechselnden Sprechen beizubehalten. Dadurch wird auf rhythmischer Ebene Harmonie zwischen beiden signalisiert. Einen gemeinsamen Rhythmus zu finden, erzeugt aus evolutionären Gründen positive Emotionen.
Es ist offensichtlich, dass eine rhythmische Vorbereitung auf den Vorgang des Singens, also ein „Timing“ des Einatmungsvorgangs, eine wertvolle Unterstützung für das Auslösen des sängerischen Reflexes darstellt. Denn er mündet in den regelmäßigen rhythmischen An- und Abspannbewegungen des Vocalismuskels.
Das Vibrato, das ja ebenso ein regelmäßiger Schwingungsablauf ist, organisiert im Folgenden rhythmisch die gesamte Phonation einschließlich der Tonhöhen- und Lautstärkeveränderungen. Für das klangerzeugenden System ist es naheliegend, die Phasen geringerer Muskelspannung für Veränderungen in Stimmlippenschwingung, An- bzw. Abkopplung von Muskelfasern oder Anpassung bei Segmentwechseln zu nutzen. Eugen Rabine sagte einmla dazu: „Für einen Profisänger gibt es keinen Takt mehr“. Er meinte damit, dass der vom Schwingungsverhalten der Stimmlippen vorgegebene körpereigene Rhythmus des Singens vor von außen vorgegebenen Zeitabläufen rangiert.
RIPPEN
Der menschliche Körper ist ausgestattet mit zwölf Rippenpaaren: Zehn echte Rippen, gewährleisten den Schutz der Lunge und zwei Fehlrippen schützen die Nieren.
Atmen bedeutet muskuläre Erweiterung, Entfächerung des knöchernen Thorax nach hinten, außen, oben und unten durch die Kontraktion des Zwerchfells und die sekundären Einatmungsmuskeln. In der Belcantoschule heißt das „con espansione“.
Bei der sängerischen Einatmung geht diese Erweiterungsbewegung aufwärts bis zu den fünften Rippen. Während der Klangerzeugung bleiben die fünften bis siebten Rippen stabil erweitert, die achten bis zehnten werden kontrolliert in Richtung Ruheposition losgelassen. Sie müssen also flexibel auf den Ausatmungsvorgang reagieren dürfen.
Bei der Einatmung wird die Bewegung von der Wahrnehmung der Rippenöffnung geleitet. Die Bauchmuskulatur wird zugleich gedehnt. Die Entfächerung des unteren Brustkorbs ist der dabei entscheidende Faktor, denn die Erweiterung des fünften Rippenbogens bewirkt eine Aktivierung des entsprechenden Wirbels und löst so reflektorisch den Gesangsreflex aus. Das ist ein neurologischer Reiz, der in ähnlicher Weise auch beim Niesreflex stattfindet.
Das fünfte/sechste Rippenpaar stabilisiert den Kehlkopf. Die Erweiterung der oberen Rippen aktiviert die Dehnungsfunktion, fördert den Stimmbandschluss und damit die „hohe Schwingung“, und durch die Erweiterung der unteren Rippen wird die Massefunktion intensiviert. Die seitliche Entfächerung ist die Voraussetzung für die „sagittale Erweiterung“ vom Rückgrat bis zum Brustbein, den „colpo di petto“.
Wird der Bauch nach außen gedrückt, dann wird die Bauchmuskulatur überdehnt, und die Rippen werden zusammengezogen.
Die Hebung der vier oberen Rippenpaare während der Einatmung („Hochatmung“) verkürzt und verengt das System und zieht den gesenkten Kehlkopf wieder nach oben. Dann kann der Gesangsreflex nicht ausgelöst werden.
RUNDUNG
Runden ist das Gegenteil von Schlucken. Schlucken ist mit der Ausatmung verknüpft und schließt, Runden („Würgen“) dagegen mit der Einatmung. Es öffnet und stabilisiert den Rachenraum. Rundung ist also gleichzusetzen mit Klangverstärkung: Ein rundes Gefäß hat das größtmögliche Volumen und gleichzeitig den geringsten Widerstand, weil die Fließbewegungen der enthaltenen Substanz keine Hindernisse vorfinden. Beim Singen rundet man durch die Einatmungspräferenz „um den Raum herum“, statt den Raum selbst zu formen und damit zu verengen.
Weil die Vokalbildung beim Singen vorrangig im Rachenraum stattfindet, gibt es eine optimale Rundungsweite für jeden Vokal. Kontrahieren die Constrictoren weiter, um die Rundung noch zu verstärken, wird das Volumen geringer, weil das den Raum wieder schließt. Dabei besteht auch Verwechslungsgefahr mit der Anwendung von Zungendruck, um einen gerundeten Raum zu gestalten. Es ist viel Erfahrung nötig, um diese beiden Wahrnehmungen zu unterscheiden. Die hintere Rundung zwischen Kehlkopf und weichem Gaumen soll während des Singens störungsfrei erhalten bleiben, während die Zunge sich für die Artikulation hebt, senkt, verbreitert und verschmälert. Rundung braucht eine flexible Zunge, und eine flexible Zunge braucht Rundung. Die vordere Rundung des Lippenringmuskels verstärkt sich und schwächt sich dabei ab, kollabiert aber nie.
Ausgelöst wird die Rundung durch einen Öffnungsreflex. (Caruso hat wohl deshalb mit einem Flaschenkorken zwischen den Lippen geübt.) Dadurch wird er obere Constrictor gedehnt und rundet. Der Kehlkopf kann sich tiefer senken, durch die Rundungsbewegung rutscht er ohne Einatmung schon tiefer. Die Schluckmuskulatur gibt Kontraktion ab und lässt sich nach unten dehnen, um den Raum vorzubereiten. Rundung und Länge ergeben zusammen die Empfindung von Schlankheit. Diese Schmalheit rundet den weichen Gaumen. Daher kommt die Kuppel beim „u“.
Die Tonisierung der sich rundenden Rachenwand beginnt direkt über den Stimmlippen und setzt sich nach oben fort, denn der obere Constrictor entwickelt einen Tonus, der hinter dem weichen Gaumen vorbei nach oben weitergeht. Der lange Gaumenbogenmuskel kann nämlich nur nachgeben, wenn die Rachenwand horizontal gerundet ist.
Die Mimikmuskulatur wird beim Singen horizontal entlang des Wangenmuskels vom Ohrläppchen zum Mundwinkel gedehnt, wie beim Saugen, statt schräg nach unten von der Ohrspitze aus mit Hilfe der Zunge, wie bei der Sprachgewohnheit.
Ein Resultat der inneren Rundung ist die Lippenrundung: Eine Schubreaktion nach vorne, unter anderem ausgelöst durch die Kontraktion der inneren Wangenmuskeln, erleichtert die Mundwinkelaktivität. Greift die Oberlippe bei der Rundung ein („Schürzen“ der Lippen), wird der Vokaltrakt verengt.
Durch die sängerische Rundung entsteht eine spezielle differenzierte Dehnung der Constrictoren: Je mehr die Dehnungsfunktion dominiert, desto größer wird der Durchmesser. Der dazugehörige Reflex ist der Würgereflex.
Die Rundung ist über Außen- und Innenwahrnehmung erkennbar. Beim Anfänger wird sie durch die Außenwahrnehmung erkannt, beim geübten Sänger durch die Innenwahrnehmung. Ohne Rundung ist keine Grundtonverstärkung möglich. Bei optimaler Rundung dagegen ist der Innenklang der eigenen Stimme gut zu hören.
Wesentlich dabei ist aber die Unterscheidung von dunklem Raumklang durch Rundung und Abdunkeln durch Abdämpfen der tiefen Frequenzen infolge einer ungünstigen Zungenposition!
SAUGREFLEX
Der Saugreflex ist ein angeborenes Programm zur Erzeugung von Unterdruck im Rachenraum. Durch Kontraktion und Rundung des Lippenrings wird er ausgelöst. Bis etwa zum siebten Lebensmonat ist Atmen und Saugen gleichzeitig möglich, danach trennen sich die Funktionen.
Das Streichen quer über die Wangen kann den Saugreflex beim Säugling und auch beim erwachsenen Menschen aktivieren. Gleichzeitig wird ein Einatmungsreflex ausgelöst. Durch Berührung der Mundwinkel runden die Constrictoren reflektorisch. Die Bewegung gleicht einer Art Greifen mit den Lippen. Der Kehlkopf fungiert dabei als Pumpe zur Erzeugung des Luftsogs. Maßgeblich für die Stärke des Sogs ist der Grad der Aktivität in den Mundwinkeln: Je weiter vorne ihre Position ist, desto effektiver ist die Wirkung.
Bis zum Alter von etwa sechs Monaten existiert sogar ein sogenannter „Zungenstoß- oder Zungenstreckreflex“. Alles, was in den Mund gelangt, wird automatisch wieder herausgeschoben. Der Reflex schützt kleine Babys vor dem Ersticken, wenn sie mit fester Nahrung in Kontakt kommen. Die entsprechende Zungenbewegung findet sich als „ng- Position“ in der Gesangsfunktion wieder: Der hintere Mundraum ist geöffnet für die Erzeugung eines Sogs, der vordere ist geschützt durch die vorgewölbte Zunge und den kontrahierten Lippenring.
Werden Säuglinge aber nicht oder zu kurz gestillt, entwickelt sich die für das Saugen nötige Muskulatur nur unvollständig. Eine optimale Rundung des Lippenrings ist dann auch im späteren Alter nur eingeschränkt möglich, weil die Muskulatur nicht von selbst nachreift. Für eine körpergerechte Gesangsfunktion ist eine stabile Rundung aber von größter Bedeutung. Die Rabineschule hält auch für diese Problematik bestimmte Therapieansätze bereit.
Der Gesangsreflex basiert auf dem Saugreflex. Auf die spezifische Mundöffnung und die dadurch ermöglichte widerstandsarme sängerische Einatmung folgt eine reflektorische Stimmbandschließung, die die Phonation einleitet.
SCHREIEN
Schreien ist eine Überdruckfunktion. Unterdruckfunktion und Überdruckfunktion können nicht gleichzeitig ablaufen. Daher sind Schreien, Rufen und lautes Sprechen Komplementärfunktionen zum Singen.
Der Vokaltrakt ist dabei durch die Schluckmuskulatur verengt. Durch die intensive Kontraktion der schrägen Bauchmuskulatur wird von unten Luft gegen die aktiven Stimmlippen gepresst, die gegen den Luftdruck reflektorisch schließen. So erhöht sich der Druck noch mehr. Beim Schreien nähern sich Taschenfalten und Ringknorpel so weit an, dass kein Raum über den Stimmlippen mehr bleibt. Der Klang ist laut, aber „gepresst“ und „schrill“. Die Beanspruchung des Vocalismuskels ist hoch.
SCHWA
Das ist der Fachbegriff für eine Lautäußerung ohne Tonhöhe, eigene Dauer und definierten Vokal. Er steht für ein Vokalisationszeichen zwischen zwei Konsonanten in der hebräischen Sprache: „Sch`wa“, gesprochen „Schewa“. Man nennt es auch den „mittleren Zentralvokal“. Auch das Schwa braucht Rundung, sonst rutscht das System hoch und schließt zur Sprachgewohnheit. Bleibt aber der Raum oberhalb der Stimmlippen während der Phonation geöffnet, entsteht das „Raumschwa“. Es ist mit der Grundtonverstärkung im Bereich des ersten Vokalformanten identisch, denn es ist Teil des ersten Vokalformanten. Außerdem verstärkt es die Eigenfrequenz des unteren Vokaltrakts. Am ehesten klingt es wie ein offenes „ö“. Auffallend in diesem Zusammenhang ist die Vorliebe in der deutschen Sprache für die Verwendung dieses Vokals zur Beschreibung von sehr lauten und undifferenzierten Lautäußerungen: Stöhnen, Röhren, Grölen, Föhnen, Dröhnen, Nölen!
Jede Konsonant-Vokalverbindung hat zwei Formanten, das Raumschwa des Konsonanten und den Formantbereich des Vokals. Beim Singen trennen sich Vokal und Schwa unterhalb von e`.
SCHWINGUNG / SCHWINGUNGSWAHRNEHMUNG
Beim Singen entsteht eine primäre, grundtönige Schwingung im Kehlkopf und direkt darüber. Im weichen Gaumen entwickelt sich eine sekundäre Schwingung: Sie ist bei „u“ am höchsten, bei „o“ und „a“ jeweils niedriger. Bei „ä“, „e“, „i“, „ö“ und „ü“ entsteht durch Hebung der Zungenmitte eine dritte Schwingungswahrnehmung am harten Gaumen, bei „ä“ am weitesten hinten, bei „i“ am weitesten vorne fühlbar.
Diese Sekundärschwingung ist nicht klangverstärkend, sondern nur ein Indikator für die primäre Schwingung. Bei diesen Vokalen wird die Schwingungswahrnehmung am weichen Gaumen schwächer, verschwindet aber nicht.
Bei „a“, „o“ und „u“ fehlt die dritte Schwingungswahrnehmung, weil die Zunge bei diesen Vokalen nicht durch schräge Hebung eine Brechung der stehenden Welle hervorruft. Wird dieser Vibrationsstrang auch bei „a“, „o“, und „u“ erzeugt, ist das nur möglich durch Hochziehen und Schrägstellen des Kehlkopfs mit der Zunge. Das hat eine Verkürzung des Vokaltrakts zur Folge und bedeutet mehr Anstrengung, weniger Effizienz und mehr Überdruckfunktion.
Je mehr tiefe Schwingung von den Stimmlippen erzeugt wird, desto intensiver ist auch die hohe Schwingung, denn sie ist ja die Auswirkung der tiefen Schwingung. Bei weniger Luftdruck wird sie noch deutlicher fühlbar. Auch bei höherer Tonfrequenz wird die obere Schwingungsempfindung immer höher und intensiver. Die untere Schwingung leitet immer die Klangerzeugung, auch wenn sie nicht dominant in der Empfindung ist.
In der Schleimhaut sitzen Rezeptoren für Schwingungswahrnehmung. Sowohl die obere als auch die untere Schwingung ist bei jedem Vokal wahrnehmbar. Durch die Wahrnehmung der Schwingung organisiert sie sich selbst.
Bei der Vokalfolge „u-ü-i“ entsteht das Gefühl einer Schwingungswanderung nach vorne vom weichen zum harten Gaumen. Die hohe Schwingung am weichen Gaumen bleibt dabei vorhanden und fühlbar, wenn auch abgeschwächt. Auch bei Kopfneigung wird eine Positionsänderung der hohen Schwingung nach rechts und links am weichen Gaumen wahrnehmbar.
Eine wandernde Schwingungswahrnehmung hinter der Zunge entsteht auch beim Singen einer Oktave schrittweise abwärts: Von oben nach unten wird die wandernde Grundtonschwingung immer deutlicher spürbar.
Das alles sind Empfindungen von Primärschwingung. Sie haben direkt etwas mit der Klangerzeugung zu tun und zeichnen sich durch feine Bewegungsabläufe aus im Gegensatz zur Empfindung von Sekundärschwingungen, die viel grober, unpräziser und aufwändiger sind. Durch Deformation des Instruments kann man nämlich die Schwingungsempfindungen an verschiedene Stellen bringen, je nach Brechung der stehenden Welle. Das ist das Konzept der Sitztechnik.
SEGMENT
Segmente sind ein akustisches Phänomen: Durch Interferenz entsteht in der Nähe der Frequenz, von der die Eigenfrequenz der Luftröhre angeregt wird, eine Irritation in der Primärschwingung der Stimmlippen, und sie reagieren mit Schließtendenz.
Weil dieser Frequenzbereich ebenfalls Teiltöne entwickelt, wiederholt sich die Irritation bei allen ganzzahligen Vielfachen der Grundfrequenz in abgeschwächter Form, wie bei jeder Obertonreihe.
Das bedeutet: Der primäre Übergang bei ca. es`/e`/f` löst weitere Übergangsphänomene aus bei ca. a`/b´/h`, es``/e``/f``, a``/b``/h`` und d```/es```.
Ab der dritten Oktave werden die Abstände etwas enger, weil die Tonhöhenregelung sich ab etwa fis`` ändert. Sogar in die Tiefe hat der Übergang Auswirkungen: Auch bei ca. a/b/h entsteht eine Schwingungsirritation der Stimmlippen. Sie kann die Masseankopplung durch den dadurch ausgelösten Schließimpuls stören.
Diese Segmentanpassungen, die immer in Bezug zur Änderung des Verhältnisses von Massedominanz und Dehnungsdominanz stehen, werden von manchen Schulen als kleine Registerübergänge beschrieben. Die Tendenz, die unangenehme Empfindung der Irritation durch Festhalten des Systems zu umgehen, wie es beim Übergang um es`` häufig geschieht, findet man auch bei den Segmentwechseln, denn sie fühlen sich wie kleine Brüche an. Es ist aber wichtig, die Veränderung der Wahrnehmung beim Singen zu erlauben, damit sich das System an die veränderten akustischen Bedingungen anpassen kann. Vergleichbar ist dieser Vorgang mit einer Gangschaltung: Für Beschleunigung oder Temporeduktion wird die „Übersetzung“ sprunghaft geändert, obwohl die Gesamtfunktion linear verläuft.
In der Sängersprache des Belcanto wird dieses Phänomen als „passaggio“ bezeichnet, was ebenfalls Übergang bedeutet. „Passaggio“ hat also eine akustische Ursache, nicht eine anatomische.
SITZ / VORDERSITZ
Die Lehre vom „Stimmsitz“, ist aus der Wahrnehmung von Sekundärvibrationen im Kopf- und speziell Stirnbereich hervorgegangen. Diese Schwingungsphänomene sind aber Folgen der Stimmlippenschwingung im Kehlkopf. Es ist nicht möglich, darüber die primäre Klangerzeugung zu optimieren. Eine Wirkung kann ihre Ursache nicht ändern.
Die beiden Schwingungsknotenpunkte, von denen die stehende Welle im Vokaltrakt definiert ist, sind die untere Schwingung direkt über der Stimmfalte und die obere Schwingung am weichen Gaumen. Bei den Vokalen „e“, „i“, „ä“, „ö“ und „ü“ entsteht eine dritte Vibrationswahrnehmung am harten Gaumen aufgrund der diagonalen Position des Zungenrückens. Bei „a“, „o“ und „u“ entsteht sie nicht. Um sie zu erzeugen, muss dafür der Kehlkopf aus seiner optimalen Tiefposition mit der Zunge leicht hochgezogen und schräg gestellt werden.
Die Schwingungswahrnehmung des „Vordersitzes“ wird für diese Vokale also durch die Umlenkung der stehenden Welle hergestellt. Ein näselndes Klangergebnis ist die Folge. Die Manipulation vermindert die Schwingungsqualität und Selbstregulation der Stimmlippen und schränkt den Stimmumfang ein. Auf die Dauer kann sie durch Überbelastung zu Stimmschäden führen, etwa zu sogenannten Registerdivergenzen.
Dazu bemerkte der berühmte Stimmforscher Manuel Garcia schon 1894 sinngemäß in seinen „Ratschlägen für den Gesang“: „... Ich lehne all das ab, wovon heutzutage gesprochen wird, nämlich das Führen der Stimme nach vorwärts, rückwärts oder aufwärts... Die Idee ist absurd, man könne den Luftstrom nach vorne oder hinten lenken... Der Sänger hole Luft und beachte die Naturgesetze, der Kehlkopf und der Rest sorgen für sich selbst...“. Das stimmt insofern, als man nicht den Luftstrom lenken kann, sondern nur die stehende Welle brechen mittels Manipulation durch die Zungenstellung.
SOTTO VOCE
Das bedeutet „unter der Stimme“. Gemeint ist Klangerzeugung mit noch geringerem Luftdruck unter der Stimme und wenig Stimmlippenschluss, im Gegensatz zu „in voce“, „innerhalb der Stimme“. Dazu muss die ausströmende Luft noch feiner dosiert, in gewisser Weise „von den Stimmlippen ferngehalten“ werden. Durch die Verstärkung der Einatmungstendenz wird der Klang leiser und weicher.
STACCATO
Staccato ist eine Teilfunktion der Stimmlippen, bei der sie eine vollständige Vibratoschwingung von ca. 0,05-0,07 Sekunden Dauer ausführen. Danach wird der Ton reflektorisch beendet. Sie findet nur im Vocalis statt, ohne Aktivität in Zwerchfell und Vokaltrakt. Das ist nur möglich, wenn das Vibrato im Moment des Einsatzes zu schwingen beginnt. Eine derartige Schwingung ist extrem fein und präzise. Sie wird nur möglich bei sehr geringem Luftdruck und vollständig entfächertem Vokaltrakt.
Beim staccato ist die Stellung des Kehlkopfs beim Stimmeinsatz spürbar. Staccato, auf funktionale Weise erzeugt, fördert deshalb die Sicherheit im Einsatz.
STIMMFACH
Das Stimmfach wird von mehreren Parametern bestimmt:
Wie viele Muskelfasern im Vocalis sind angeboren? Je mehr vorhanden sind, desto dunkler, massereicher ist die Stimmfarbe. Seine Länge spielt dagegen für das Stimmfach nur eine sehr untergeordnete Rolle. Der Muskel ist frühestens ab einem Alter von 35 Jahren (bei Bassstimmen noch später, bis zum Alter von 45 Jahren) vom Wachstum her ausgereift. Also kann sich das Stimmfach bis zu diesem Alter noch ändern.
Welche Teilfunktion wird bevorzugt? Auch diese Vorliebe ist angeboren. Die Präferenz, Masse anzukoppeln oder den Muskel zu dehnen, unterscheidet den Mezzosopran vom dramatischen Sopran und den hohen Bariton vom Tenor. Dabei beruht die Vorliebe für Dehnungsdominanz auf einer höheren Grundenergie.
Wie ist der Vokaltrakt von Natur aus gestaltet und wie dominant wird darin die hohe oder tiefe Schwingung verstärkt?
Der persönliche Stimmklang ist so individuell wie Fingerabdruck, aber er wird durch die extreme Verformbarkeit des Vokaltraktes sowie persönliche Erfahrungen und davon ausgelöste Schutzhaltungen beeinflusst.
Die Empfindung von Schönheit im Stimmklang beruht, wie jede Empfindung von Schönheit, auf dem im Hörenden erzeugten Wohlgefühl. Sie ist also nicht, wie die verbreitete Ansicht lautet, reine „Geschmacksache“, sondern, von individuellen Vorprägungen und entsprechenden Hörerwartungen einmal abgesehen, geprägt von der Empfindung von Natürlichkeit und Ungezwungenheit. Wie der singende Mensch sich körperlich und emotional fühlt, so fühlt sich auch der hörende.
Der körpergerechte funktionale Klang löst durch seine Stimmigkeit dieses Wohlgefühl aus. Er wird aus diesem Grund überwiegend als schön empfunden. Das herausragende Beispiel dafür ist aus meiner Sicht sicher die Stimme von Fritz Wunderlich, deren Schönheit sich wohl kaum jemand entziehen kann.
STIMMLIPPEN
Wir kommen ohne Stimmbänder, also ohne die den Vocalismuskel umhüllenden Schleimhautligamente zur Welt. Erst mit Vollendung des 17. Lebensjahres ist die Verbindung zwischen Vocalis und Ligament abgeschlossen. Daraus erklärt sich auch die völlige Ermüdungsfreiheit der Säuglingsstimme.
Der Vocalis ist ein Skelettmuskel. Seine Funktion ist, Gelenke des Knochengerüstes zu bewegen. Er liegt zwei bis drei Millimeter unter der Spitze des „Adamsapfels“ und ist der komplizierteste Muskel des menschlichen Körpers. Hinten ist er dicker als vorne und besitzt viele Muskelspindeln, die unabhängig voneinander kontrahieren können. Die Anzahl dieser Muskelspindeln ist angeboren und bleibt lebenslang unverändert. Allerdings können sie trainiert werden. Dadurch kann der Umfang des Vocalismuskels vergrößert werden.
Abgesehen vom Herzmuskel ist er der einzige nicht ermüdbare Muskel, denn er gibt entstehende Wärme sofort ab. Seine besondere, nicht ermüdbare Zopfstruktur kommt sonst im Körper nur noch im Herzmuskel vor. (Herz und Stimmmuskel sind im embryonalen Stadium aus ein und derselben Keimzelle hervorgegangen.)
Vom Aufbau her ist er in Segmente differenziert: Jede halbe Oktave gibt es einen Übergang in ein anderes Schwingungsverhaltens, das das akustische Phänomen des „Wolfs“ bzw. „Bruchs“ hervorruft. Dabei sind alle muskulären Vorgänge fließend, akustische Phänomene und taktile Wahrnehmungen hingegen springen.
Die Innenseite besteht aus drei verschiedenen Zellstrukturen. Sie wird innerviert durch eine spezielle Art von Gamma-Nervenfasern und erzeugt so eine isotonische Kontraktion oder Dehnung. Die Dehnung im Vocalismuskel kann nicht aktiv gehalten werden, außer während man singt. Die ihn umgebende Schleimhaut schwingt dabei vertikal durch einen neurologischen Impuls etwa fünf bis siebenmal in der Sekunde. Das klangliche Ergebnis davon ist das Vibrato. Diese Vibratoschwingung regelt sich selbst in Bezug zu Luftdruck und Schwingung des Muskels.
Durch ihre Primärfunktion als Einatmungsventil sind die Stimmlippen hochsensibel für Luftbewegungen im Vokaltrakt und reagieren darauf mit Tonisierung, Erhöhung der Bewegungsbereitschaft und Differenzierungsfähigkeit.
Bei der sängerischen Phonation steuern die stimmerzeugenden Muskeln den ganzen Vokaltrakt. Die dabei erzeugten Schwingungen sind die differenzierteste Bewegung des ablaufenden neuronalen Programms und damit die leitende Bewegung. Auch für die Tonhöhen- und Lautstärkeregelung sind sie zuständig.
Für die Muskelarbeit ist ein hoher Tonus im Vocalis nötig. Die Tonuswahrnehmung zeichnet sich durch eine Art horizontales „Zentrums- bzw. Effizienzgefühl“ aus.
Eine Kontraktion des Muskels ist aber nur möglich gegen die Gegenspannung des antagonistisch arbeitenden Muskels. Setzt man dem Stimmmuskel keine Spannung entgegen, kann er nicht zu kontrahieren. Dabei besteht leider Verwechslungsgefahr mit der Wahrnehmung von Luftdruck oder Zungendruck. Bei reduziertem Luftdruck ist es also leichter, Tonus im Vocalis zu erzeugen.
Die Eigenschwingung der Stimmmuskulatur wird neuronal erzeugt, nicht durch „Anblaseluft“. Bei der gesunden Stimmfunktion ist daher eine Phasengleichheit der beiden Stimmlippen im Einsatz, in der Schwingung und im Absatz, also der reflektorischen Öffnung zum Abschluss der Schwingung, zu beobachten.
Je stärker der Ring-Schildknorpelmuskel kontrahiert, desto länger und weiter wird der Vokaltrakt geöffnet. Die Stimmlippen werden dabei immer mehr in Richtung Dehnungsfunktion gezogen. Die Öffnung wird dabei immer weiter und runder. Das bewirkt bei der Nachatmung einen anderen, vertikalen Atemweg an der Vorderseite des Vokaltrakts entlang.
Da im Normalfall die Luftabgabe durch äußere muskuläre Kontrolle geregelt wird, müssen die Stimmlippen lernen, den Luftfluss beim Singen selbst aktiv zu dosieren. Durch die sängerische Einatmung sind praktische alle Verengungen und Widerstände aufgehoben, die ihn behindern könnten. Letztlich entscheidet der Vocalis bei der Klangerzeugung über die Dosis der Luftabgabe, den Grad der Einatmungstendenz.
Die Dehnung der Stimmfalte durch die Kontraktion des äußeren Kehlkopfmuskels und die Drehung der Stellknorpel erzeugt kinetische Energie und einen hohen Tonus. Beides stellt einen optimalen Schutz für die Atemwege dar. Beim Singen wird diese Bewegungsbereitschaft in regelmäßigen Wechsel von Öffnung und Schließung der Stimmritze umgesetzt. Das signalisiert dem Gehirn sogar einen besseren Schutz als komplette Schließung, denn dabei wird ja die Atmung gestoppt.
Die Stimmlippen sind das Unterdruckventil des Körpers. Neuronal sind sie daher mit dem Bizeps und dem Daumengrundgelenk verschaltet. Durch Kraftanwendung zum Körper hin, wie zum Beispiel beim Klettern, wird durch sie die Lunge vor unwillkürlich einströmender Luft verschlossen, damit Zugkraft aufgebaut werden kann.
Aufgrund dieser Zusammenhänge und ihrer Mittelstellung zwischen rechter und linker Körperhälfte und vor allem wegen ihrer phasengleichen Bewegungen bei der Tonerzeugung können sie sogar für eine Verbesserung der Körperbalance sorgen. Umgekehrt dient das Verhältnis von Stabilität und Flexibilität des gesamten Körpers der Feinregulation des Luftflusses für den Gesangsreflex.
STUMME MASSE
Wenn die Klangquelle mit größerer Masse schwingt, haben auf gleicher Tonhöhe gebildete Klänge dunklere Klangfarben Dieses Phänomen nennt man „stumme Masse“. Das ist mit dem unterschiedlichen Klangergebnis verschiedener Saiten beim Spielen der gleichen Tonhöhe vergleichbar. Bei der menschlichen Stimme ist dafür die Beschaffenheit der untersten Schicht des Vocalismuskels verantwortlich. Je mehr Muskelfasern eine Person zur Verfügung hat, desto dunkler klingt die Stimme. Ein Fachbegriff dafür ist auch „Timbre“.
BELCANTOBEGRIFFE UND FACHAUSDRÜCKE FUNKTIONAL ERKLÄRT T - Z
TIEFE
Um tiefe, langsame Schwingungen zu erzeugen, wird der dritte, untere Teil des Stimmmuskels zugeschaltet. Der Muskel wird dabei dicker, kürzer und weicher. Durch die stärkere Schwingung wird bei der Tonerzeugung auch die Luft unter der Stimmritze mit in Schwingung versetzt. Die Stimmlippen schließen sich vollständig und öffnen sich weiter. Die Schleimhäute bleiben dabei trotz der höheren Kontraktion unabhängig vom Muskel beweglich.
Die Rundung der Constrictoren verstärkt und stabilisiert sich, weil der äußere Kehlkopfmuskel der Anspannung des Vocalismuskels nachgibt. Deshalb liegt bei massedominanten Tönen die Zunge im Verhältnis zu den Stimmlippen weiter vorne als bei dehnungsdominanten. Die sich daraus ergebende Mundöffnung entspricht der von stärkerer Saugwirkung. Man findet diese spezielle Mundstellung naturgemäß oft in automatisierter Form bei sehr tiefen Bässen.
Tiefe Töne brauchen außerdem Länge, denn ein langes Rohr resoniert tiefe Frequenzen gut. Das bedeutet, der Kehlkopf steht idealerweise auf Tiefstposition, damit der Vokaltrakt darüber möglichst lang ist.
Durch ihre langsamere Schwingung und die größere schwingende Masse fordern tiefe Töne mehr Luftfluss an. In der Tiefe ist deshalb der Luftfluss dominanter als der Luftdruck.
Die kräftigen Schwingungen können über den Knochenklang im ganzen Körper wahrgenommen werden.
Liegt die Frequenz eines Tones unter der Frequenz des ersten Vokalformanten des gesungenen Vokals, muss ein decrescendo erfolgen, oder der Raum muss zum nächst offeneren Vokal öffnen. Sonst kann der entsprechende Vokal nicht vollständig artikuliert werden.
In der Arie des Osmin „O wie will ich triumphieren“ aus Wolfgang Amadeus Mozarts Oper „Die Entführung aus dem Serail“ endet die Phrase mit den Worten „...denn nun hab´ ich vor euch Ruh`!“ auf dem großem D. Kein Sänger kann das Wort „Ruh´“ in dieser Lage noch artikulieren. Deshalb wird traditionell der Text verändert auf „… denn nun hab´ ich Ruh´ vor euch“, wobei das Wort „euch“ meistens auch noch wie „aich“ klingt. Nur ein „a“ ist in so tiefer Lage und der nötigen Lautstärke noch vollständig herstellbar.
TONHÖHENREGELUNG
Tonhöhe ist von Geburt an eines der stärksten emotionalen Signale, die es gibt. Die Regelung der Tonhöhe ist eine horizontale Bewegung. Sie wird gesteuert durch das Agonist/Antagonist-Paar Vocalis und Ring- Schildknorpelmuskel. Das ist anders als beim Blasinstrument, denn da kommt sie über Verkürzung oder Verlängerung des Resonanzrohres zustande. Der Ablauf ist codiert im Muskelgedächtnis und verläuft ohne aktive Beteiligung des Vokaltrakts. Allerdings muss der Rachenraum flexibel auf die Veränderungen reagieren können, damit die Tonhöhenregelung durch die Stimmlippen möglich ist.
Abwärts regelt der Stimmmuskel die Tonhöhe durch seine Kontraktion. Mit seiner Dehnungserlaubnis leitet der Kehlkopfkipper die Bewegung. Aufwärts verhält es sich umgekehrt: Der Vocalis ist der leitende, nachgebende Muskel, der Kehlkopfmuskel kontrahiert und kippt den Schildknorpel nach vorne unten.
Dass er das kann, muss die Zunge nach vorne nachgeben, denn der untere Constrictor ist am Zungenbein angewachsen. Nur so wird die Dehnung der Stimmlippen möglich. Durch eine parallele Reaktion des Unterkiefers kann diese Bewegung unterstützt und getriggert werden: Wird sie nämlich auf der Basis des Saugreflexes ausgeführt, ruft die Kieferöffnung eine Senkung des Kehlkopfs auf zwei Drittel seiner Tiefstposition hervor.
Die Tonhöhe wird unbewusst reguliert, die dabei entstehenden Veränderungen werden nur wahrgenommen. Der Versuch, sie bewusst zu kontrollieren, stört die Funktion, denn er aktiviert zuallererst Zungenaktivität.
Bei der Sprachgewohnheit und einigen reflektorischen Abläufen wie Erschrecken oder Niesen wird die Tonhöhe verändert, indem der Kehlkopf hinten von der Zunge hochgezogen wird. Das klangliche Ergebnis ist ein hoher Laut. Bei der sängerischen Tonhöhenregelung bleibt die Zunge an der Tonhöhensteuerung unbeteiligt. Da sie aber vor allem auch ein Tastorgan ist, bedarf es einiger Selbstreflexion, damit sie sich nicht in Richtung der spürbaren Schwingungen bewegt. Denn diese Bewegungen könnten auch die oben beschriebene ineffiziente Tonhöhenveränderung bewirken.
Für die Tonhöhenregelung ist also eine Differenzierung der Zungenbewegung nötig. Auch der Tonus der Lippen hat Einfluss darauf.
Bei Tonhöhenveränderungen während des Singens leitet die Empfindung der Stimmlippenschwingung. Abwärts verändert der Vokaltrakt daraufhin seine Form, um die neu entstehenden Grundtöne verstärken zu können. Aufwärts sind schon alle Obertöne vorhanden, eine Veränderung ist also nicht nötig.
Im Laufe der sängerischen Entwicklung bildet sich ein Gefühl für Tonhöhen, eine Muskelerinnerung, die es ermöglicht, eine zuvor gehörte Frequenz unterbewusst voreinzustellen, und so „den Ton zu treffen“. Dieses Prinzip entspricht in etwa der Treffsicherheit beim Instrumentalspiel. Auch dafür ist es ja nötig, Muskelerinnerung durch Übung zu entwickeln.
TONUS
Tonus wird die Grundspannung in der Muskulatur genannt. Tonuszunahme im Körper, in der Aufrichtungsmuskulatur, programmiert auch die Stimmmuskulatur zu mehr Tonus: Ein höherer Tonus in der Wirbelsäule löst Millisekunden später eine stärkere Rundung im Artikulationssystem aus. So gewinnt auch der Vokaltrakt an Tonus. Verliert dagegen der Brustkorb den Tonus, rutscht der Kehlkopf hoch, denn die Aufrichtung stellt die antagonistische Kraft zur Kehlkopfsenkung dar. Durch erhöhten Körpertonus wird die Masseschwingung weich, statt ungeführt zu schlackern.
Je höher der Tonus ist, desto besser sind die Unterschiede zwischen Masse- und Dehnungsdominanz spürbar. Bei verschiedenen Vokalen, dynamischen Abstufungen und Tonhöhen ist jeweils auch ein verschiedener Tonus nötig.
Gewichtige Menschen haben im Allgemeinen mehr Tonus, um die Aufrichtung zu halten. Das ist ein Grund dafür, warum es unter professionellen Sängern und Sängerinnen überdurchschnittlich viele füllige Menschen gibt.
TRACHEALZUG
Dieser Begriff beschreibt die Kehlkopfsenkung durch die Einatmungsbewegung. Dadurch bewegt sich die Zwerchfellkuppel bis zu sieben Zentimeter unter die Ruheposition. Die Luftröhre wird dadurch schräg nach hinten unten gezogen. Alle hebenden Einhängemuskeln müssen dabei erlauben, sich dehnen zu lassen.
Trachealzug ist die Hauptaktivität, um den Kehlkopf auf die sängerisch günstige Tiefposition zu senken. Fehlt er, wird oft versucht, diese Senkung durch Zungendruck herzustellen. Deshalb ist die sehr tiefe Einatmung von mindestens 50% Lungenvolumen so überaus wichtig.
TRAGFÄHIGKEIT
Bei einem starken Grundton durch die Verstärkung der tiefen Frequenzen im geöffneten Vokaltrakt entstehen auch hohe und starke Obertöne. Wie bei jedem Klangkörper verbessert sich die Klangverstärkung proportional zur Länge und dem Durchmesser des Resonators. Beim menschlichen „Instrument“ wird sie noch verstärkt durch eine laserartige Potenzierung des Klanges aufgrund der besonderen akustischen und neurologischen Gegebenheiten.
Für die Entstehung der Sängerformanten, also die Frequenzen bei etwa 3000, 5000 und 8000 Hz, ist also eine maximale Öffnung des Vokaltrakts unbedingt nötig. Sie bilden sich bei geringem Stimmlippenschluss durch den hohen Anteil an gedehnter, fein schwingender Schleimhaut. Da diese Frequenzbereiche aus evolutionären Gründen von der Form des menschlichen Ohres am besten verstärkt werden, entsteht das „Lautheit“ genannte Phänomen, dass akustisch leiserer Schall als dominant wahrgenommen wird vor tieferem, objektiv lauterem Schall, der „Lautstärke“.
ÜBERGANG
Die primäre, von der Evolution vorgesehene Funktion des Stimmlippenventils ist, auf jede kleinste Luftbewegung mit sofortiger Schließung zu reagieren, um die Lunge vor dem lebensgefährlichen Eindringen von Fremdkörpern zu schützen. Gleichzeitig hat die Luftröhre eine Eigenfrequenz, denn sie bildet einen Hohlraum. Das Erzeugen eines Klanges nahe an dieser Frequenz bewirkt Schwebungen, die ihrerseits Luftverwirbelungen hervorrufen. Da der Durchmesser der Luftröhre eine feste Größeneinheit im menschlichen Körper ist, wie zum Beispiel auch die ungefähre Größe von Herz oder Leber, liegt bei allen Erwachsenen ihre Eigenfrequenz auf der Tonhöhe von ca. es`/e`.
Treffen die von der Schwebung erzeugten Luftwirbel auf die Stimmlippen, löst das den Schließreflex aus. Das stört natürlich die Klangerzeugung. Als Schutzreaktion springt daraufhin entweder das Massesystem oder das Dehnungssystem ein und bewirkt eine Schließung. Der Luftdruck unterhalb der schwingenden Stimmlippen erhöht sich, der Ton bekommt plötzlich mehr Energie, und das entsprechende Register setzt sich durch. Das ist die akustisch-physikalische Erklärung des Phänomens „Bruch“.
Bemerkenswert dabei ist, dass Sopranistinnen ihre bevorzugte Sprechlage oft ziemlich tief, um den „phonischen Nullpunkt“ herum, wählen. Das ist entspannend für die Stimmmuskulatur, die ja bei ihnen viel in der Dehnungsfunktion arbeitet. Manche Altistinnen sprechen dagegen vergleichsweise hoch, zum Teil sogar über dem Übergang. Durch die geringere Muskelmasse „leichterer“ Stimmen entstehen weniger Schwebungen. Darum fühlt sich die Eigenresonanz der Luftröhre bei ihnen offenbar nicht so störend an wie bei „schwereren“ Stimmen.
Die Wahrnehmung des „Bruchs“ ist unangenehm. Um sie zu vermeiden, wird häufig das System festgehalten. Steht der Kehlkopf zu hoch, ist der Grundton gegenüber der Eigenfrequenz der Luftröhre zu schwach. Das verstärkt den störenden Effekt noch. Dazu kommt, dass sich in der Oktave zwischen a und a` die Stimmfunktion von Massedominanz auf Dehnungsdominanz umstellt. Das kann eine weitere Irritation in den Stimmlippen bewirken.
Das Ziel beim funktionalen Gesang ist, die Irritationen durch Rundung zu minimieren. Das kann nur gelingen, wenn die Grundtonfrequenz dominant bleibt gegenüber der Luftröhrenfrequenz, also bei gerundeten Rachenmuskeln und gesenktem Kehlkopf.
Am leichtesten fällt der Übergang auf Vokal „o“. Die gerundete Artikulationsform des Vokals verbessert die Resonanz im Vokaltrakt und minimiert die störenden Luftwirbel. Auch das noch mehr rundende „u“ hat diese Wirkung. Ein möglichst weiter Rachendurchmesser erleichtert ebenfalls den Übergang.
Wenn der mittlere Constrictor aktiv bleibt und die Rundung aufrechthält, kann die Zunge dagegen stabilisieren. Hält sie ihren Tonus bei, erhöht sich die obere, vordere Resonanz und die Vibratoempfindung wird stärker. Schließt das System aber im Übergang, was infolge von Schutzreflexen leicht geschehen kann, verliert die Zunge ihren Tonus. Je geringer der Zungentonus ist, desto stärker ist also der Übergang.
Mehr Einatmungstendenz im Übergang verringert ebenfalls den unangenehmen Schließimpuls der Stimmlippen, weil dadurch der subglottale Luftdruck minimiert wird. Wenn also viel Irritation entsteht, ist der Luftdruck zu hoch. Durch Reduktion des Drucks und den Wechsel zur nächstleiseren dynamischen Stufe, oder auch zum nächsten dehnungsdominanteren Vokal, kann sie reduziert und annähernd behoben werden. Auch körperliche Balance unterstützt eine Feinabstimmung im Übergang.
Bei Männerstimmen, die Massedominanz gewöhnt sind, ist die Strategie verbreitet, den Übergang durch Erhöhung des Luftdrucks zu vermeiden und solange im massedominanten Register zu singen, bis die Schwingung abbricht. Das ist auch die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs „Bruch“. Sie müssen lernen, zu erlauben, dass die Stimmlippen Masse abgeben, damit sie für die Klangerzeugung nach und nach ins dehnungsdominante Register wechseln können. Besonders bei Tenören ist das eine ständige Gratwanderung, ein „Ritt auf der Rasierklinge“. Auch bei crescendo in der Übergangslage bleibt bei dieser Stimmgruppe die Klangfarbe hell auf Grund ihrer besonderen Technik, die ein wenig dem „Belting“ ähnelt. Im Unterschied zu dieser Singweise bleibt die Empfindung in der Übergangslage aber dehnungsdominant, denn es kommt nicht so viel Masse dazu, dass sie zur Massedominanz wechselt. Das gilt nicht nur für Tenöre, für diese aber in besonderem Maße.
Zur Gewöhnung an die evolutionär immer etwas unangenehme Empfindung dieser unvermeidbaren Irritation kann man lernen, die Wahrnehmung auf angenehme Empfindungen zu lenken und so mit der Zeit die Störung als für den Organismus ungefährlich erkennen. Durch die Veränderung verschiedener Parameter ist es auch möglich, den Übergang zu „umgehen“, aber nur durch Manipulation des Vokaltrakts und Verminderung der optimalen Voraussetzungen für die Stimmlippenfunktion.
VENTRIKEL / VESTIBÜL
Mit Ventrikel, übersetzt „Bäuchlein“ oder Vestibül, die „Vorhalle“, wird der Raum direkt über der Stimmfalte bezeichnet. Er reicht vom Vocalis bis zum Kehldeckel und ist mit Taschenfalten und Ringknorpel verbunden. Der Vestibülresonator verstärkt die tiefen Frequenzen. Ist er geöffnet und der Kehlkopf gesenkt, wird der Grundton gut verstärkt, ist er geschlossen, ist die Grundtonverstärkung gering.
In der Form ähneln Vokaltrakt und Vestibül einer Oboe d`amore. Ihre Klangfarbe ist dunkler als der Klang der Oboe, denn der geweitete Raum am Ende des Rohres verstärkt vor allem die tiefen Frequenzen des Klanges.
Bei von unten angeschliffenen Konsonantanlauten mit Schwa, so, wie es in der russischen Sprache üblich ist, bläht sich das Vestibül leicht auf. Das verstärkt die Resonanz dieses Hohlraumes und damit die tiefen Frequenzen des individuellen Timbres. Hier liegt ein Grund für den typischen „russischen“ Stimmklang: Die dunklen Klanganteile werden durch diese spezielle Konsonantbildung begünstigt.
VIBRATO
Jeder Muskel besitzt Tremorfähigkeit. Dabei hängt die Frequenz des Grundtremors von der Größe des Muskels ab. Bei den Bauchmuskeln liegt sie bei 4 Hz, bei den Fingern bei 5-7 Hz, bei. Physiologischer Tremor wird durch neurologische Impulse an die Muskeln ausgelöst . Dieses „neuronale Entlastungszittern“ dient dem Erhalt der Belastbarkeit und Spannkraft. Ist das Kräfteverhältnis zwischen den Antagonisten ausbalanciert, stellt es sich von selbst ein, um eine Dauerbelastung der Muskulatur zu ermöglichen.
Beim Vocalismuskel und seinem Gegenspieler, dem äußeren Kehlkopfmuskel, liegt die Tremorfrequenz bei 5-7 Hz. Das ist daher die Frequenz von gesundem Vibrato. Weil durch die Stimmlippenschwingungen hörbare Töne erzeugt werden, wird diese zusätzliche Schwingungsform beim Singen hörbar. Auch eine Tonhöhenveränderung von etwa einem Viertel- bis Halbton entsteht beim Vibrato.
Es findet auf Stimmlippenebene statt und wird durch abwechselndes Kontrahieren und Nachgeben der Vocalismuskulatur erzeugt. Der Entstehungsort ist der Rand der Stimmlippen. Der neurologische Impuls für die Vibratoschwingung wird auch beim Absatz und dem neuen Toneinsatz nicht gestört. Durch das neuronale Zittern entsteht außerdem eine Wellenschwingung an der Oberfläche des Ligaments.
Die Vibratoempfindung zwischen Stimmlippen und Zungenbein ist dabei dominant vor der Masseempfindung fühlbar. Der weiche Gaumen reagiert mit Tonisierung.
Die Empfindung von Vibrato im Vocalis und die Wahrnehmung der stehenden Welle im Vokaltrakt organisiert die weiteren Bewegungsformen der Stimmmuskulatur, wie Tonhöhenwechsel, dynamische Abstufungen, Koloraturen, Triller, Staccato und viele weitere komplexe Bewegungsabläufe. Sogar die Abstufung des Luftflusses durch die Stimmlippen, also die Veränderung von Dynamik, Tonhöhe und Vokal, vollzieht sich im Rhythmus des Vibratos. All das stellt sich bei dominanter Unterdruckfunktion von selbst ein. Jede Parameteränderung folgt dann der Wahrnehmung der ungestörten Vibratoempfindung. Auch Stimmeinsatz und Absatz liegen zeitlich am Beginn bzw. Ende einer Vibratoschwingung. In diesem Modus organisiert die Vibratoschwingung die ganze Funktion. Umgekehrt ermöglicht Vibrato eine noch feinere Koordination der beteiligten Muskeln. Da der physiologische Grundtremor der Muskulatur von Natur aus zur Verfügung steht, entwickelt sich echtes Vibrato bei guten Bedingungen von selbst. Willentlich kann es nicht hergestellt werden. Vibratounterdrückung ist ein Eingreifen in die natürlichen Körpervorgänge. Es kann Intonationsprobleme nach sich ziehen: Ein Zuviel bzw. Zuwenig an Muskelmasse im Verhältnis zur Dehnung des Ligaments und auch ein Zuviel an Luftdruck unter den schwingenden Stimmlippen erzeugt zu tief bzw. zu hoch erscheinende Klangergebnisse.
Unregelmäßiges Vibrato kann an unregelmäßiger Tonisierung des Vokaltrakts liegen: Dann schwingt eine Stimmlippe langsamer als die andere. Zu schnelles Vibrato mit zu kleiner Amplitude heißt auch „Tremolo“. Es entsteht durch zu hohen subglottalen Luftdruck, ungünstige Spannungsverhältnisse und zu wenig Raum im Vokaltrakt. Der erhöhte Stimmbandschluss wird noch durch die kontrahierende Schluckmuskulatur unterstützt. Deshalb findet es auch im Vokaltrakt statt, nicht nur in den Stimmlippen. Bei Tremolo sieht man häufig sogar ein Mitvibrieren der Zunge im Mundraum durch die davon ausgelösten Haltungen im Atem- und Artikulationsapparat. Es kann durch mehr Rundung der Constrictoren, also Bereitstellung von mehr Raum verlangsamt werden. „Wobble“ nennt man zu langsames, zu großes Vibrato. Auch das entsteht durch zu viel Masse oder Druck. Eine Reduktion der Schwingung kann durch den mentalen Wunsch nach nonvibrato erreicht werden. Durch schnelle Bewegungen des Zungenrückens kann ein Pseudovibrato hergestellt werden, denn sie bewirken Luftdruckveränderungen durch den zu- und abnehmenden Zungendruck. Darauf reagieren die Stimmlippen mit An- und Abkopplung von Masse.
Bei dominanter Überdruckfunktion stellt sich kein Vibrato ein. Wird der Luftdruck während des Singens zu stark erhöht, hört das Vibrato auf, weil dadurch die Balance im System gestört wird. Echtes nonvibrato ist etwas anderes: Es wird gebildet bei fast komplett gesenktem Kehlkopf durch leichte Kontraktion zweier Muskeln. Sie verlaufen innerhalb des Kehlkopfs vom Schildknorpel zum Kehldeckel. Diese Funktion stellt sich beim glissando, dem Gleiten der Tonhöhe nach unten oder oben von selbst ein, um diese Funktion nahtlos und störungsfrei zu ermöglichen. Wenn die Tonhöhe dann nicht für ein glissando verlassen, sondern beibehalten wird, ist das Ergebnis ein funktional gesunder Nonvibratoklang.
Vibrato ist innerer Rhythmus. Auch das Rhythmusempfinden ist daher untrennbar mit einem gesunden Vibrato verbunden. Der Vocalismuskel reagiert auf diese Weise auf rhythmische Veränderungen in der Musik und gleicht seine Frequenz leicht an. So können Tempoveränderungen mitvollzogen werden trotz der vorgegebenen Grundfrequenz von 5-7 Hz.
Das Vibrato bei der menschlichen Stimme ist so etwas Natürliches und offenbar Wünschenswertes, dass das Spiel von Instrumenten seit jeher damit bereichert worden ist, sogar mit möglichst ähnlicher Frequenz und Amplitude. Dass es immer wieder als unnatürlich wahrgenommen wird, liegt vermutlich daran, dass ungesunde Vibrati mit viel Druck, zu großer oder zu kleiner Frequenz und Amplitude leider weit verbreitet sind. Das unangenehme Gefühl beim Hören sowie die Einschätzung, so ein Vibrato sei unnatürlich, kann also unter anderem auch einem natürlichen Gespür für gesundes Vibrato entspringen.
VOCAL FRY
Der Begriff Vocal Fry, auch Strohbass oder Schnarrregister genannt, meint die Stimmlippenschwingung am „phonischen Nullpunkt“. Der äußere Kehlkopfmuskel ist beinahe vollständig entspannt, darum bietet er den Stimmlippen keinen Widerstand. Der Vocalis schwingt also mit maximaler Kontraktion und gleichzeitig minimalem Tonus. Bei dieser Schwingungsform sind alle drei Regelfunktionen der Stimmlippen außer Kraft: Tonhöhenregelung, Lautstärkeregelung und mediale Kompression sind nicht möglich. Der Geräuschanteil ist gegenüber dem Tonhöhenanteil dominant.
VOCE BIANCA
Damit ist die Sopran- oder Altstimme von Knaben vor dem Stimmbruch gemeint. Im Normalfall zeichnet sie sich durch nonvibrato und sehr hohe Obertöne aus, weil die akustischen Verhältnisse aufgrund der noch nicht vollständigen Aufrichtung und des kürzeren Vokaltrakts bei Kindern anders sind als bei Erwachsenen.
VOKAL
Ontogenetisch ist der Vokal älter als der Konsonant. Das Lallen des jungen Säuglings findet ausschließlich auf Vokalen statt. In diesem Alter ist Saugen die dominante Funktion der Mund- und Rachenregion. Mit dem Spracherwerb wird ein neues, von schließender Muskulatur geprägtes Programm installiert, das auch Konsonantlaute enthält. Der Zeitpunkt dafür fällt mit dem Übergang von flüssiger zu fester Nahrung und damit mit dem Erlernen des Kau- und Schluckvorgangs zusammen.
Die sängerische Vokalisation muss also im Gehirn neu verlinkt und dann eintrainiert werden, denn evolutionär stammt sie ja noch aus der Zeit vor dem Kauen und Sprechen. Die Artikulation von Sprache wird das ganz Leben hindurch parallel mit der Sängervokalisation weiter verwendet. Auch beim Singen ist sie am Anfang dominant, weil gesungene Literatur ja meistens mit Text versehen ist. Daher greifen Anfänger beim singenden Artikulieren eines Textes fast immer darauf zurück.
Es gilt also, die beiden Sprachbehandlungsprogramme auseinander halten zu lernen. Optimalerweise wäre das die Hauptaufgabe von Stimmbildung. Wenn Kinder die Möglichkeit haben, funktional gesund singende Erwachsene zu hören, entstehen Verbindungen im Gehirn, die die Freilegung der funktionalen Gesangsfunktion nach dem Übergang zur Erwachsenenstimmgebung deutlich erleichtern.
Der Vokal, die „Mutter der Silbe“, definiert die Klangdauer nicht nur beim Singen, sondern auch beim Sprechen. 87 Grundvokale existieren allein in der deutschen Sprache. Andere Sprachen haben noch weitere Vokalfarben. Alle werden erkennbar durch ihre spezifischen Formantbereiche. Entscheidend dabei ist nur die Form des Resonators, nicht die Größe. Dieses Prinzip gilt nicht nur für menschliche Lautäußerungen. Auch Tierstimmen und sogar unbelebte Gegenstände können aus diesem Grund erkennbare Vokale hervorbringen. Sie sind ebenfalls definiert durch die jeweilige Form des Resonators. Das Piepen der Vögel auf dem Vokal „i“, das Muhen der Kuh und das Tuten der Schiffshupe auf dem Vokal „u“ oder das Röhren der Hirsche auf dem Vokal „ö“ sind nur wenige Beispiele dafür. Sogar das „mieaou“ der Katze entsteht durch nahtlose Veränderung der Form ihres Mäulchens.
Beim funktionalen Singen entsteht der Vokal im Vokaltrakt, also dem vertikalen Rachenraum von den Stimmlippen bis hinauf zum Gaumensegel, statt wie bei der Sprachgewohnheit im Mundraum. Sängerische Vokalisation ist also nur möglich bei vollständiger Kehlkopfsenkung und optimaler Vokaltraktlänge. Dann können sich auch die Sängerformanten bilden. Ist aber die Rachenrückwand nicht genügend aktiv für eine ausreichende Rundung und somit für die Leitung der Vokalbildung anstelle der Mundwinkel, rutscht die Artikulation in den Mundraum, also in die Sprachebene.
Es gibt Rundungs- und Zungenhebungsvokale. Anders als bei der Sprachgewohnheit werden beim Singen beide mit einer der Saugbewegung ähnlichen Lippenöffnung, also mit Tonus im Lippenringmuskel und Rundung der Rachenrückwand gebildet, statt mit Zungenaktivität. Lippen und Zunge reagieren nur.
Vereinfacht kann man sagen, dass „a“, „o“ und „u“ Rundungsvokale sind, verknüpft mit einer Erweiterung der zehnten bis achten Rippen. Die Vokalfolge „u-o-a“ entspricht genau der Mundöffnung bei der sängerischen Einatmung. Caruso sagt dazu: „Alle Vokale haben in der (sängerischen) Artikulation die gleiche ovale Form.“ Und die Belcantolehre meint: „In jedem (gesungenen) Vokal ist ein „a“ enthalten.“ Tatsächlich wird das sängerische „a“ grundlegend anders, viel runder gebildet, als das bei der Sprachgewohnheit der Fall ist.
„E“ und „i“ sind Zungenhebungsvokale, verknüpft mit der Erweiterung der siebten bis fünften Rippen. Beim Schlürfen, einer Aktion im Einatmungsmodus, entsteht aus diesen Gründen ein ungefähr der Vokalfolge „u-o-a-e-i“ entsprechendes Geräusch, genau entgegengesetzt zu den Lauten, die Katzen erzeugen. Der Laut „ui!“ ist das emotionale Pendant dazu. Auch beim Erstaunen atmet man ein.
In der Sprachgewohnheit ist das „i“ der am meisten schließende Vokal. Der Ausruf des Ekels, “iiih!“ ist vermutlich in diesem Zusammenhang entstanden. Beim vom Saugreflex getriggerten Singen hat es den größten Vokaltraktdurchmesser. Das ist auch der Grund, warum viele Ärzte ihre Patienten auffordern, mit geöffnetem Unterkiefer ein „i“ zu artikulieren: Dadurch wird der Vokaltrakt weit und sie haben freien Blick auf Kehlkopf und Luftröhre.
Alle Zungenbewegungen sind bei sängerischen Vokalwechseln von der Kontraktion der Lippenrundung entkopppelt. Auch das entspricht den Vorgängen beim Saugen. Sie erfolgen auf der Basis des ersten Vokalformanten über den Stimmlippen im Vestibül. Auch bei den „hellen“ Vokalen „e“ und „i“ hat der erste Formant Priorität, der zweite ordnet sich darüber. Verschwindet er, ist das ein Zeichen dafür, dass sich das System geschlossen hat. Sängerische Vokale haben ähnliche Formantbereiche wie die Vokale beim Sprechen, gebildet werden sie aber durch völlig andere Artikulationsbewegungen, teilweise sogar von anderen Muskeln. Der Raum ist dabei viel länger und der Durchmesser größer. Den größten Durchmesser hat das „a“.
Grundsätzlich werden alle sängerischen Vokale da definiert, wo sie am offensten und am meisten gerundet, aber schon klar in der Vokalfarbe erkennbar sind.
Nach Phonation und Nachatmung haben alle Gesangsvokale eine optimalere Form als davor. Denn sie wurde ja von den schwingenden Stimmlippen angefordert, die die ganze Funktion regulieren.
Vokalwechsel erfolgen beim Singen über „Vokalglissandi“ wie „u-ü-i“ oder durch „Sprünge über Vibratotäler“. In der Artikulationsbewegung zum nächsten Vokal hin sollten auch die dazwischenliegenden Konsonanten möglichst störungsfrei gebildet werden.
Auch während des Singens auf der „bequemen“ Tonebene des Sprechens wird mit Gesangsvokalen artikuliert. Das ist vor allem wichtig für Männerstimmen, weil sie öfter im akustischen Bereich ihrer Sprechlage singen als Frauenstimmen.
VOKALAUSGLEICH
Damit ist eine interne Änderung und Angleichung der Formantbereiche gemeint, soweit das für eine optimale Vokaltraktgestaltung möglich und nötig ist. Ab der zweigestrichenen Oktave fehlen für die Vokalfarben „u“, „o“ und „a“ nach und nach die Formantbereiche für den ersten, später auch für den zweiten Vokalformanten. Nur für „ä“, „e“ und „i“ bleiben sie bis zur dreigestrichenen Oktave erhalten. Das Vokaltraktsystem muss darum seine Form verändern, damit diese Vokale noch gebildet werden können. Bis zu einem gewissen Grad ist dabei eine teilweise Umfärbung der Vokale in die nächst dunklere Vokalfarbe unvermeidlich. Wenn das vermieden wird, verkürzt sich der Vokaltrakt und der Kehlkopf steigt hoch.
VOKALFARBE
Sie wird durch die unterschiedlichen Lautstärken der Teiltöne bestimmt, die im Vokalklang enthalten sind. Geändert wird sie durch Kiefer, Zunge und Lippen: Lippen und Zunge verstärken oder dämpfen durch ihre Formung manche Teiltöne. Dadurch werden bestimmte Vokalfarben definiert. Für die Vokalfarbenänderung wird nur eine Frequenz geändert, der ganze Rest bleibt als Klangfarbe konstant.
VOKALTRAKT
Der Vokaltrakt, der Resonator für die menschliche Stimme, reicht von den Stimmlippen bis zum weichen Gaumen. Die Stimmlippen bilden dabei mit dem unteren Vokaltrakt eine Einheit. Sowohl seine Differenzierungsfähigkeit als auch seine Effizienz in der Klangverstärkung sind unerreicht. Es gibt bei den Instrumenten nichts Vergleichbares. Der Vokaltrakt ist nämlich auch ein Reflektor: Er reflektiert die Schallwellen auf die schwingenden Stimmlippen zurück und erhöht damit ihre Bewegungsbereitschaft. Das führt nach dem Prinzip der Rückkopplung zu einer sukzessiven Verstärkung der Klangintensität.
Die Länge des Vokaltrakts ist nur über seine Akustik, also durch Wahrnehmung der unteren und oberen Schwingung erkennbar. Denn in dieser Form existiert er nur während der Phonation. Er erhält sie durch die Kehlkopfsenkung infolge von Kieferöffnung und Trachealzug. Dadurch wird eine antagonistische Hebung des weichen Gaumens erzeugt. Alle verkürzenden Kontraktionen müssen dafür größtmögliche Dehnung erlauben.
Die Form sollte während der Phonation möglichst stabil bleiben. Nur dann kann eine störungsfreie Differenzierung der Bewegungen stattfinden. Solche Störfaktoren bei suboptimaler Vokaltraktform können etwa Vibrationswahrnehmungen durch die Eigenfrequenz der Luftröhre sein. Demgegenüber hat die Grundschwingung der Stimmlippen eine stabilisierende Wirkung. Durch die Öffnung des Raumes über den Stimmlippen wird die tiefe Frequenz verstärkt, und der geänderte Zugang zum Kehldeckeleingang bewirkt eine regelmäßigere Stimmlippenschwingung. Denn sie sind in ihrem Schwingungsverhalten davon abhängig, was im Vokaltrakt passiert.
In der Vokaltraktgestaltung ist die Zunge die vordere Wand des Vokaltrakts. Seine Gestalt erhält er schon durch die Einatmung und nicht erst während der Phonation. Umgekehrt wird die Raumöffnung für die Bildung der Vokale für die folgende Einatmung genutzt.
Für die Klangverstärkung reagiert der Vokaltrakt nur während der Phonation. Seine stabile Form verstärkt und intensiviert die Luftschwingung vertikal und horizontal. Dabei gilt die Hierarchie Längsschnitt vor Querschnitt, sonst verkürzt sich der Vokaltrakt wieder. Die Rachenwand ist dabei dominant in der Wahrnehmung. Sie ist ein Teil des Reflexionssystems, darum ist ihre Tonisierung für die Klangverstärkung maßgeblich.
Die Rachenschleimhaut besitzt Rezeptoren, die Schwingung wahrnehmen können. Durch sie erkennt man aber nicht die Schwingungsempfindung in den Stimmlippen, sondern die vokaltraktbezogene Veränderung der Raumempfindung.
Der mittlere Vokaltrakt ist der Schlüssel zur Lautstärke in der Höhe: Je dominanter die Dehnungsfunktion in der Tonerzeugung wird, desto länger und weiter wird der Vokaltrakt und desto dunkler und obertonreicher der Stimmklang. Die individuellen körperlichen Voraussetzungen für eine möglichst gute Klangverstärkung haben also einen bedeutenden Einfluss auf das jeweilige persönliche Timbre.
Jede willentliche Manipulation am Vokaltrakt und jede bewusste Leitung der Schwingungsverstärkung bewirkt eine Deformation des „Instruments“ mit der Zunge und eine Abflachung der Rundung der Rachenmuskulatur. Dadurch entstehen Kompensationsspannungen sowohl an anderen Stellen des Vokaltrakts als auch in anderen Körperbereichen. Denn sie sind über funktionale Muskelschlingen mit dem Vokaltrakt verbunden.
WAHRNEHMUNG
Die höchste, schnellste, feinste und präziseste Form von „Kontrolle“ und der erste Schritt zu jeder bewussten Aktivierung ist Wahrnehmung. Wahrnehmung generiert Bewusstsein ohne Urteilen oder willentliches Eingreifen in das Wahrgenommene. Je tiefer man damit in einen Mikrokosmos eintaucht, desto größer werden im Verhältnis die Dimensionen des Wahrgenommenen.
Es gilt zu erkennen, ob man wirklich wahrnimmt oder im theoretischen Wissen schon zu weit springt und die Wahrnehmung denkt oder sie sich vorstellt. Es geht um das Bewusstsein davon, was wirklich geschieht und darum, es geschehen zu lassen, ohne es anzuhalten, zu lenken oder zu beeinflussen. Das ist der Unterschied zwischen Wahrnehmen und Beobachten. Die Quantenphysik hat gezeigt, dass der Beobachter in das Beobachtete eingreift.
Wahrnehmung wird gelernt durch Bewegung. So lautet der Ansatz der Feldenkrais-Lehre. Andere Konzepte beschreiben diesen Geisteszustand als Intuition, Phantasie, Assoziation, vegetative Steuerung, Alpha-Zustand, Kontemplation oder Zen. Die Reihenfolge ist immer gleich: Am Anfang steht fließende Wahrnehmung, der „flow“. Erst danach folgt die Reflexion.
Alles, was mit Wahrnehmung bedacht wird, bekommt mit der Zeit ein größeres Areal im Gehirn. Um die Wahrnehmung zu verfeinern, ist es deshalb hilfreich, sie sich aktiv bewusst zu machen. Weil sie sich aber ähnlich wie theoretisches Wissen anfühlt, muss sie erst davon unterschieden und differenziert werden. So kann mit der Zeit eine Erweiterung des Wahrnehmungsrepertoires stattfinden. Das ist die Vorgehensweise der funktionalen Gesangsausbildung.
Das bedeutet aber auch: Wer seine Wahrnehmung vor allem auf Körperbereiche richtet, die nur sekundär an der Phonation beteiligt sind, stört auf lange Sicht die natürliche Balance der Gesangsfunktion, statt sie zu optimieren. Beispiele dafür sind das Gehör, das nicht aktiv in die Klangerzeugung eingreifen, sondern die schon erzeugten Klänge nur retrospektiv erkennen kann oder die Zunge, bei der die Gefahr besteht, dass erhöhte Aufmerksamkeit sie zu stärkerer Kontraktion anregt. Auch bei der Schwingungswahrnehmung, die die Folge der Phonation und nicht ihre Ursache ist, kann die Fokussierung auf die Position der Schwingungsempfindung den Kehlkopf in die entsprechende Richtung auslenken.
Bewusste Wahrnehmung ist von größter Bedeutung für die funktionale Phonation. Ein Gefühl des Erkennens, ein „Aha-Effekt“, stellt sich dabei aber nur beim ersten Mal ein. Die Wiederholung einer neuen Wahrnehmung ist schon nicht mehr so neu, und darum reagiert das Gehirn nicht mehr mit der gleichen freudigen Überraschung. Der Wunsch, diesen „Aha-Effekt“ immer wieder erleben zu wollen, führt darum zur Übertreibung seiner Auslöser und damit zu einem Eingriff in das selbstregulierende Geschehen. Dadurch kann eine Dysbalance in der Funktion entstehen.
Läuft die Phonation irgendwann weitgehend störungsfrei und selbstregulierend ab, wie das beim professionellen Singen oft der Fall ist, wird sie von erhöhter Feinwahrnehmung ohne konkrete lokale Empfindungen geleitet. Die Zielsetzung ist dann nicht die Wahrnehmung selbst, sondern die Aktion, die durch sie ermöglicht wird. Darin liegt womöglich eine Ursache dafür, dass begnadete Naturbegabungen nicht immer den besten Unterricht geben. Bei ihnen bestand nie die Notwendigkeit, sich all diese Empfindungen überhaupt ins Bewusstsein zu rufen. So geben sie oft nur diejenigen Details weiter, die für die Optimierung ihres eigenen Könnens noch nötig waren. Meist sind sie aber sehr speziell und daher wenig geeignet, den Schülerinnen und Schülern genügend grundsätzliche und allgemein gültige Informationen über die Vorgänge beim Singen zu vermitteln. Die Lernenden sind dann darauf angewiesen, selbst mehr oder weniger eigenständig den Instinkt für das Singen zu entwickeln.
Je feiner die Wahrnehmung wird, desto präziser wird auch die Ausführung. Das, worauf man seine Wahrnehmung richtet, übernimmt die leitende Funktion. Das ist die Quelle der Entwicklung, aber auch die Quelle aller Fehler. Da Richtungen zu weisen, ist die Aufgabe der lehrenden Person.
Das ist eine diffizile Aufgabe, denn externe Wahrnehmung ist immer auch Beurteilung. Was dafür nötig ist, wurde von Eugen Rabine als „funktionale Empathie“ bezeichnet: Die Lehrkraft muss selbst lernen, der körperlichen Intelligenz zu vertrauen, ihrer eigenen und der Intuition der Person, die vor ihr steht. Beim Erkennen dessen, was bei der Phonation geschieht, geht es dabei sogar fast immer um Mehrfachwahrnehmungen. Wenn also Vorstellung und Wahrnehmung nicht übereinstimmen, sei es beim lehrenden oder beim lernenden Menschen, ist es immer das Gegebene, der Wahrnehmung zu folgen.
Obendrein hat Wahrnehmung eine heilende Komponente, die sich sehr viele Heilverfahren zu Nutze machen: Eigenwahrnehmung und Schmerz schließen einander aus!
WIRBELSÄULE
Sie ist unser „Segelmast“, der für die Aufrichtung notwendig ist.. Die doppelte S-Form der Wirbelsäule bildet sich erst mit sieben Jahren aus, daher ist funktionales Singen frühestens ab diesem Alter möglich.
Die Halswirbelsäule mit ihren sieben Halswirbeln liegt direkt hinter dem Resonator und ist maßgeblich mit an seiner Form beteiligt. Die Wirbelsäule reagiert auf die Bewegungen der Rachenrückwand. Die Streckung der Wirbelsäule begünstigt und unterstützt daher die Kehlkopfsenkung.
Alle Bewegungen der Wirbelsäule sind miteinander verbunden und bedingen einander. Für das Singen bedeutet das: Wenn am oberen Ende der Wirbelsäule etwas nicht funktioniert, kann man es oft am unteren Ende suchen, weil die sängerische Aufrichtung von unten nach oben stattfindet.
WISSEN
Wissenschaft ist subjektiv. Was man nicht denken kann, kann man nicht untersuchen. Wenn das Interesse für etwas nicht da ist, weil nicht bekannt ist, dass es überhaupt existiert, wird auch nicht in diese Richtung geforscht. Umgekehrt ist gerade in Bezug auf körperliche Tätigkeiten wie Singen ein theoretisches Wissen von Fakten sinnlos und sogar kontraproduktiv, weil die rein intellektuelle Beschäftigung mit diesen Abläufen ja verhindert, dass sie real im Augenblick wahrgenommen werden. Nachdenken, Reflektieren über abstrakte Sachverhalte ist nicht gleichzeitig möglich mit bewusster körperlicher Empfindung. Wer sich selbst beim Kopfrechnen beobachtet, merkt, dass dabei sogar die Atmung ins Stocken gerät. Konzentration steht in diametralem Gegensatz zu Kontemplation.
Eugen Rabine hat zu dem Thema einiges zu sagen: „Wissen ohne Wahrnehmung bleibt intellektuelle Theorie und führt zu Selbstüberschätzung.“, „Wahrnehmung ohne Wissen führt zu Missverständnissen.“, oder „Wahrnehmung mit Wissen und Wissen mit Wahrnehmung zusammen führen zu Realität und Weisheit.“ (Renate Rabine, „Die theoretischen Werke von Eugen Rabine – vol. 1“, S. 6) Und zu guter Letzt:“ Ohne Wissen gibt es keine wahre Intuition; ohne Intuition gibt es keinen Aufbau von Wissen.“ (Renata Parussel, „ Lieber Lehrer, lieber Schüler“, S. 9)
WÜNSCHEN
Das ist der Schlüssel für die vegetative Steuerung, durch die der Gesangsreflex organisiert wird. Denn Wünschen bedeutet einen Auftrag ohne Kontrolle, wie er ausgeführt wird. Die Frage ist: Was wünsche ich mir zu erleben? Je präziser die Wunschvorstellung ist, desto präziser wird die Wunscherfüllung. Deshalb lautet die zweite Frage: Wo wünsche ich was wie zu erleben?
ZUNGE
Die Zunge ist neben ihren anderen evolutionären Aufgaben, zu denen primär die Nahrungsaufnahme gehört, vom ersten Lebenstag an ein Tastorgan. Jede Wahrnehmung kann sie aktivieren. Es ist erstaunlich zu beobachten, welche vielfältigen unwillkürlichen und unterbewussten Bewegungen sie beim Essen und Trinken macht. Sie passt sich immer der Raumgestaltung an und neigt dazu, sich dahin zu orientieren, wo Wahrnehmungen stattfinden. Auch das Registrieren von Schwingungswanderungen, die von der stehenden Klangwelle erzeugt werden, gehört dazu. Die leitende Wahrnehmung für die Veränderung von Zungenpositionen beim Singen ist der entstehende Vokalklang. Ohne diese Rückmeldung über das Hören ist keine differenzierte Positionsänderung der Zunge möglich, denn sie ist dann orientierungslos. Darum kann ein Versuch, ohne dieses akustische Signal bestimmte Zungenstellungen willentlich zu anzusteuern, nicht gelingen.
Die Zunge ist am Kinn angewachsen und reicht bis zum flexibel beweglichen Zungenbein. Etwa zwei Fingerbreit darunter sind die Stimmlippen. Dieser Abstand bleibt immer etwa gleich bei allen sich ändernden Parametern.
Die Lendenwirbelsäule und die Zunge hängen unmittelbar zusammen: Erst wenn die Lendenwirbelsäule tonisiert ist, kann die Zunge differenziert arbeiten. Umgekehrt stabilisiert die Zunge die Aufrichtung mit, denn sie ist der Gegenspieler zur Nackenmuskulatur.
Sie ist sehr flexibel beweglich. Eine sehr differenzierte Ansteuerung des mittleren, hinteren und unteren Zungenbereichs ist daher möglich. Außerdem ist sie immer in Bewegung. Die Differenzierung der Wahrnehmung ihrer meistens unwillkürlichen Bewegungen ist daher ein Hauptziel des funktionalen Stimmtrainings. Ganz am Ende der Einatmung senkt sich die Zunge leicht durch den Trachealzug. In der Einatmung muss man darum der Zunge erlauben, sich zu bewegen und das Zungenbein reagieren zu lassen.
Für die sängerische Kieferöffnung zieht der untere vordere Muskelanteil die Zunge in Richtung Kinn, mit der flexiblen, nach unten gerichteten Spitze an der Innenseite der Zahnwurzel. Dabei wird sie schmal durch die ovale Formung der Mundöffnung und die Rundung der Constrictoren.
„Die Zunge soll vorne liegen“ ist die dazu passende, sehr oft missverstandene Aufforderung aus der Belcantoschule. Gemeint ist wohl, dass die Zunge bei der Klangerzeugung als vordere Vokaltraktmembran fungiert. Damit sie diese Funktion optimal erfüllen kann, muss der Zungengrund aktiv nach oben gedehnt werden können. Sie darf nicht „schlappmachen“.
Damit die Zunge nicht in den Rachen fällt, muss auch die Mundbodenmuskulatur tonisiert sein. Für Artikulation und Tonhöhenregelung bewegt sie sich vorne nach unten. Dafür ist eine noch größere Dehnung des Zungengrundes und Zungenrückens nötig, sonst wird durch den entstehenden Zug der Kehlkopf ausgelenkt.
Die Rachenrückwand leitet die Zungenbewegung: Sie rundet, und dadurch hebt sich im Mundraum das hintere Drittel des Zungenrückens. Der Zungengrund darunter bewegt sich waagrecht nach vorne. Je weiter vorne und tonisierter die Zunge ist, desto leichter funktioniert die Rundung der Constrictoren. Die alte italienische Schule spricht von „ng-Position“: Die Zunge beschreibt einen Bogen, die mittleren Zungenränder berühren die oberen Backenzähne, und die Zungenspitze ruht an den unteren Schneidezähnen. Das ist bis etwa zur Öffnungsweite des Vokals „ä“ möglich.
Dazu muss die Zunge allerdings sehr differenziert bewegt werden können: Eine zu hohe Zunge verschließt die Rachenöffnung wieder. Wenn die Zunge dagegen zu breit wird, geht bei der Tonerzeugung das Gefühl für die tiefe Schwingung verloren. Die Intensität der Zungenbewegung und -dehnung ist abhängig von der Größe der Kieferöffnung. Durch ungünstige Zungenstellungen passiert es häufig, dass die tiefen Klanganteile nur unvollständig nach außen dringen, weil sie davon abgedämpft werden. Dann wird die außen wahrgenommene Intonation verzerrt.
Bei der Artikulation ist die Zungenspitze, also der kleinste bewegte Muskel dominant wirksam. Deshalb muss sie einen möglichst hohen Tonus haben. Die Mittelzunge ist aber am aktivsten. Für die differenzierte Vokalbildung ändert der Zungengrund den Vokaltraktdurchmesser und unterstützt so auch die Tonhöhenveränderung. Die Zungenbewegung agiert dabei unabhängig von der Rundung der Constrictoren.
Fast immer ist die Assoziation der Zungenposition mit der „Position des Tones“ unbewusst verknüpft: Liegt die Zunge hinten oder vorne, wird das damit assoziiert, der Ton befinde sich „hinten“ oder „vorne“. Auch die Zungenform wird mit der „Form des Tones“ assoziiert: Es existiert die Vorstellung eines „schlanken“ oder „dicken“ Tones. So ist die oft gehörte Anweisung, schon den höchsten Ton der Phrase in die mentale Planung des Einsatzes einzubeziehen, eine unbewusste Botschaft, ein „Auftrag“ an Zungentonus und -bewegung. Die Folge davon ist, dass der Raum für die Verstärkung dieses Tones gestaltet wird, aber nicht für den ersten Ton der Phrase. Dass diese Vorgehensweise kontraproduktiv ist, versteht sich von selbst. Um der Gesangsfunktion entsprechend agieren zu können, braucht die Zunge immer den Bezug zur Schwingungsempfindung der im Moment erzeugten Klangwelle.
Für die Zungenflexibilität ist allgemein eine hohe Koordinationsfähigkeit, und im Besonderen Flexibilität des Brustkorbs eine absolut nötige Voraussetzung. Denn alle primären Funktionen dieses Organs sind mit der Atmung gekoppelt: Kauen und Schlucken sind mit dem Ausatmungsprogramm verknüpft, Würgen, Trinken und Saugen sind einatmungsgesteuert. Wenn zum Beispiel die Unterlippe im Saugreflex den Tonus erhöht, tut die Zunge das auch. Würde sie nach hinten fallen. würde das die Saugbewegung unmöglich machen.
Die Flexibilisierung der Muskelfasern der Zungen für die Bildung einer optimalen Vokaltraktform wird von den Stimmlippen geleitet, weil sie der raumerweiternden Schildknorpelkippung folgen und nach unten vorne flexibel nachgeben muss. Sonst kann der Schildknorpel die Dehnungsposition nicht einnehmen.
Eine Erhöhung des Zungentonus erleichtert die Ankopplung von Masse. An der Tonhöhenregelung ist die Zunge nicht beteiligt, aber bei der Tonhöhenveränderung nach unten tonisiert sie antagonistisch nach oben.
Eine Haltung in der mittleren Zunge bewirkt die Fixierung des weichen Gaumens. Das zieht zu hohen Luftdruck nach sich, weil dadurch der Vokaltrakt kürzer wird und die Resonanzverhältnisse sich dadurch verschlechtern. Je mehr Dehnung, Zug in der Zunge dagegen erlaubt wird, desto mehr Luftfluss und infolgedessen mehr Klang kann entstehen. Bei Haltungen in der Zunge und mangelnder Flexibilität überträgt sich außerdem die Vibratobewegung: Sie wackelt dann im Rhythmus des Vibratos.
Es ist wichtig, dass die Zunge auf beiden Seiten gleichmäßig agiert, sonst entstehen Störungen in der Funktion. Wird zum Beispiel der Kopf schief gehalten, ist die Zungendehnung asymmetrisch. Bei der Artikulation wird dadurch auf den Kehlkopf ein unterschiedlich starker Zug ausgeübt, so dass er aus der horizontalen Lage geraten kann. Dann schwingen die Stimmlippen nicht synchron. Oder der Zungengrund wird asymmetrisch gedehnt, so dass auf einer Seite mehr Zungendruck entsteht. Daraus resultiert dann ein einseitiger „harter Knödel“.
Die Zunge kann sich erst dann feinmotorisch anders organisieren, wenn der Restkörper alle anderen Bereiche übernimmt, für die sie evolutionär auch zuständig ist. Das gilt vor allen Dingen für die Schutzfunktion, die sie in Bezug auf die Luftwege erfüllt. Drei der fünf Sphinktere zum Schutz der Lunge stehen im Zusammenhang mit Zungenbewegungen. Wenn also der äußere Lippenring kollabiert, muss die Zunge ihre sängerisch günstige Position zugunsten ihrer Primärfunktion aufgeben und „einen Rückzieher machen“. Je flexibler die Zunge im Verlauf der Ausbildung wird, je feiner ihre Bewegungen werden, desto weniger stört die Artikulation von Text die Stimmlippenschwingung.
ZWERCHFELL
Das Zwerchfell ist der primäre Einatmungsmuskel. Es ist, wie der Name schon sagt, ein quer (zwerch) im oberen Bauchbereich verlaufender Muskel und etwa einen Zentimeter dick. Es trennt den Verdauungstrakt vollständig vom Atemtrakt und ist nahtlos mit der Lunge verbunden. Durch Kontraktion nach unten kann es einen Unterdruck im Lungengewebe erzeugen, das durch den Rippenkorb in seiner Form festgelegt ist. So wird ein Sog aufgebaut und Außenluft ins Innere der Lunge gezogen.
Das Zwerchfell ist der einzige reine Atmungsmuskel, alle anderen an der Atmung beteiligten Muskeln sind primär für die Körperaufrichtung zuständig. Deshalb ist ein ständiger Ausgleich zwischen Aufrichtungs- und Atmungsaktivität nötig, nicht nur beim Singen. Eine gute Körperaufrichtung ist die Voraussetzung für eine effektive Atmung. Speziell die Zwerchfellschenkel, zwei Muskelfortsätze links und rechts an der Wirbelsäule in der Körpermitte, können nur dann ausreichend kontrahieren, wenn durch eine stabile Aufrichtung ein antagonistischer Zug hergestellt wird.
Wie jeder Muskel ist das Zwerchfell nur fähig, zu kontrahieren oder zu entspannen. Darum kann durch Zwerchfellaktivität nur eingeatmet werden, niemals aus.
Mit zunehmendem Alter besteht auch bei der Zwerchfellmuskulatur die Gefahr einer unbewussten Dauerkontraktion. Die Schwerkraft wirkt auf das Zwerchfell ebenso wie auf die anderen inneren Organe. Da seine Kontraktion aber von oben nach unten verläuft und die Entspannung entgegengesetzt von unten nach oben, kann es passieren, dass durch den Einfluss der Schwerkraft mit der Zeit keine vollständige Entspannung mehr eintritt. Verstärkend kommt noch dazu, dass Gefühle wie Erschrecken oder Angst eine reflektorische Einatmung auslösen. Wird diese Gefühlslage chronisch, was infolge verschiedenster Lebensumstände sehr häufig der Fall ist, bleibt auch eine chronische Restkontraktion in der Einatmungsmuskulatur bestehen. Dann wird die Elastizität der Muskulatur nach und nach immer geringer und damit auch das Atemvolumen. In der Lunge bleibt dann Restluft, ein vollständiger Luftaustauschs wird unmöglich. Dadurch wird das Bedürfnis ausgelöst, immer noch mehr einzuatmen.
Durch bewusste Aktivierung der Ausatmungsmuskulatur, nämlich der schrägen Bauchmuskeln, kann eine Lösung dieser Dauerkontraktion herbeigeführt werden, damit eine vollständige Einatmung wieder möglich wird. In diesem Zusammenhang, zu diesem Zweck können stoßweise Ausatmungsübungen durchaus sinnvoll sein. Sie trainieren jedoch nicht das Zwerchfell, sondern die Bauchmuskeln. Bei isolierter Anwendung kann so ein Ungleichgewicht zwischen Ein- und Ausatmungsmuskeln entstehen. Weil gesundes Singen aber die Dominanz der Einatmungsmuskeln erfordert, muss durch einatmungsbetonte Übungen die Einatmungsmuskulatur dann noch stärker trainiert werden als die Ausatmungsmuskulatur.
Die Zwerchfellsenkung vollzieht sich in drei Etappen: Erst erfolgt eine kurze vertikale Senkung der oberen faszialen Platte. Danach hebt sich die Zwerchfellkuppe leicht nach oben. Gleichzeitig kontrahieren von der 10. Rippe aufwärts die äußeren Anteile von außen nach innen. Darauf folgt die Kontraktion der Kuppel nach unten.
Die Zwerchfellkuppel ist auch imstande, sich unabhängig von der Atemtätigkeit zu senken, um Druck in Richtung Unterleib auszuüben. Wenn eine Erweiterung der seitlichen Rippen mit Hilfe der schrägen Bauchmuskeln verhindert wird, schiebt diese Bewegung die Bauchdecke nach außen. Leider wird dieser Vorgang oft mit echter Bauchatmung, der Ruheatmung verwechselt: Bei ihr hebt sich der Bauch im Liegen ohne Bauchmuskelkontraktion, die Ausatmung erfolgt durch Rückstellkräfte und die Schwerkraft ohne zusätzliche Muskelarbeit. Der geringe Luftaustausch dabei ist ausreichend für die minimale Körperaktivität in Ruhe. Nur kleine Kinder, bei denen die Entfächerung der Rippen noch nicht möglich ist, atmen auch bei Aktivität in dieser Weise in den Bauch.
Die Zwerchfellsenkung agiert dominant vor der Rippenhebung und -erweiterung. Darum kann es passieren, dass die Zwerchfellschenkel bei einer großen Einatmung die Wirbelsäule ins Hohlkreuz ziehen. Für die Stabilität der Aufrichtung ist darum eine Gegenkontraktion der seitlichen Brustmuskulatur nötig.
Eine stärkere Tonisierung des Zwerchfells bewirkt das Gleiche beim Vocalismuskel. Die hinteren Zwerchfellanteile aktivieren mehr die Massefunktion, die vorderen die Dehnungsfunktion: Je größer der Sog durch die Erweiterung des Vokaltrakts ist, desto weiter hinten reagiert das Zwerchfell. Denn das Lungengewebe befindet sich zu zwei Drittel im Rücken. Das entspricht in etwa der Vokalfolge „u-o-a“.
Zwerchfellbewegungen haben ab dem sechsten Lebensmonat eine ansteckende Wirkung. Sie lösen dann die Emotion aus, die beim Gegenüber erkannt wird. Das gilt insbesondere auch für den Gesang, der ja eine ganz spezielle Form der emotionalen Kommunikation ist. Bei emotionalen Doppelbotschaften zu Interpretationszwecken kann das den Ausdruck überladen und irritierend wirken.
Die im funktionalen Gesang fortwirkende Einatmungstendenz, das „Inalare la voce“ bedeutet, die Zwerchfellaktivierung weiter zu verstärken, statt sie nach und nach erschlaffen zu lassen, wie das bei allen anderen ausatmungsgesteuerten Aktionen der Fall ist. Das aktiviert dann auch fortlaufend die Emotionsebene, die ja direkt mit dem Zwerchfell verknüpft ist. So wird aus einer Körperfunktion Gesang.
EPILOG
Zu wissen, welche sängerischen Konzepte funktional sinnvoll sowie anatomisch, akustisch und neuronal begründbar sind und welche Kompensationen oder Vermeidungsstrategien sind, ist ein wichtiger Wegweiser. Um die eigenen Gewohnheiten und die der Schülerinnen und Schüler von der funktionalen Warte aus einordnen und entsprechende Wege und Teilziele verantwortungsvoll wählen zu können, ist es notwendig, die zielführenden Konzepte von denen unterscheiden zu können, die in die Irre leiten.
Dieses theoretische Wissen ersetzt aber in keiner Weise die praktische intensive Beschäftigung mit dem eigenen Körper und den eigenen Gewohnheiten und Glaubenssätzen. Da sich niemand von außen beobachten kann, da ein lernender Mensch zwar ein Gespür für gangbare Wege und gesunden Umgang mit der eigenen psychosomatischen Konstitution hat, aber weder eigene Erfahrungswerte im Hinblick auf eine realistische Zielsetzung und potentielle Möglichkeiten, die er selbst bisher nicht erlebt hat, noch Kenntnis von unbewussten Prägungen, Haltungen, Gewohnheiten, Strategien und Traumata, ist es ihm nicht möglich, eine reale Vision von dem Weg zu entwickeln, der ihn dorthin führen kann. Dazu kommt, dass die täglich ausgeübte Sprachgewohnheit mit der sängerischen Artikulation nur sehr eingeschränkt kompatibel ist, und bestimmte artikulatorische Bewegungsabläufe ganz neu erlernt werden müssen. Dafür ist es unbedingt notwendig, sich einer erfahrenen Lehrperson anzuvertrauen. Wer das nötige Fachwissen und die erforderlichen Fähigkeiten des funktionalen Hörens, Sehens und Fühlens entwickelt und Wege des Unterrichtens gelernt hat, kann im Unterricht sicher und ohne Umwege auf das angestrebte Resultat hinleiten, funktional gesund und lustvoll singen zu können bis ins hohe Alter.
INDEX DER ERKLÄRTEN BEGRIFFE
Aperto ma cuperto
Appoggiare la voce
Artikulation
Atmung
Aufrichtung
Ausdruck
Bauchmuskulatur
Belting
Bewegung
Bewusstsein
Bocca ridente
Canto fiorito
Canto sul fiato
Chiaroscuro
Colpo di petto
Constrictoren
Cuperto / la cupula
Decken
Dehnung
Dehnungsfunktion
Doppelventilfunktion
Dynamik / Lautstärke
Einsatz
Einschwingvorgang
Einsingen
Emotion
Falsett
Filare la voce
Formant
Gaumen
Gesangsreflex
Gestaltung
Glissando
Glottisschlag
Gola aperta
Höhe
Inalare la voce
Intonation
Kehlkopf
Kehlkopfsenkung
Klang
Klangfarbe
Knödel
Koloratur
Konsonanten
Legato
Ligament
Lippen
Luftwege / Luftdruckregelung
Lunge
Mangiare la voce
Markieren
Masse
Mediakompression
Messa di voce
Mezza voce
Mimikmuskulatur
Mischung
Mundöffnung / Kieferöffnung
Mundraum
Muskulatur
Nase
Öffnung
Ohr
Passaggio
Pfeifregister
Portamento
Randschwingung / Randstimme
Raum
Register
Registerdivergenz
Resonanz
Resonator
Rhythmus
Rippen
Rundung
Saugreflex
Schnute
Schreien
Schwa
Schwingung / Schwingungswahrnehmung
Segment
Sitz / Vordersitz
Sotto voce
Staccato
Stimmfach
Stimmlippen
Stumme Masse
Tiefe
Tonhöhenregelung
Tonus
Trachelazug
Tragfähigkeit
Üben / Unterrichten
Übergang
Ventrikel / Vestibül
Vibrato
Vocal fry
Voce bianca
Vokal
Vokalausgleich
Vokalfarbe
Vokaltrakt
Wahrnehmung
Wirbelsäule
Wissen
Wünschen
Zunge
Zwerchfell
EUGEN RABINE UND SEIN FUNKTIONALES KONZEPT
Der Opernsänger Eugen Rabine wurde am 10. 11. 1940 in North Dakota in den USA geboren. Nach seinem Studium in den Fächern Gesang, Musikerziehung, Dirigieren, Theologie und Pädagogik arbeitete er zunächst als freier Sänger und Gesangslehrer sowie als Chor-, Band- und Orchesterleiter. Ab 1967 war er an verschiedenen Bühnen in den USA und in Europa als Opernsänger engagiert. Ab 1976 beendete auf eigenen Wunsch die aktive Sängerlaufbahn, um sich vollständig seiner Tätigkeit als Gesangspädagoge und der Entwicklung der funktionalen Theorie widmen zu können. 1979 bekam er einen Lehrauftrag für Gesang an der Universität in Gießen. 1980 wurde er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Arbeitswissenschaft an der TU Darmstadt und übernahm unter der Leitung von Professor Dr. Walter Rohmert die Co-Leitung eines interdisziplinären Teams zur Erforschung der Grundlagen der Stimmfunktion. Das Institut für funktionale Stimmpädagogik und funktionales Stimmtraining gründete er 1987. 1988 wurde er zum Professor für Gesang an die Hochschule für in Dresden und 1998 an die Hochschule in Weimar berufen. Im Jahr 2018 ist Eugen Rabine verstorben.
Eugen Rabine war sowohl als unvergleichlich einfühlsamer Pädagoge als auch als unermüdlich forschender Wissenschaftler auf den Gebieten der menschlichen Anatomie in Bezug auf die Gesangsfunktion, der Akustik und der Neurologie ein Leuchtturm der Gesangslehre des 20. und 21. Jahrhunderts. Seine Methode beruht auf einem ganzheitlichen Ansatz. Er beruht auf der persönlichen Feinwahrnehmung der subtilen Abläufe beim Singen. Alle für die funktionale Phonation relevanten körperlichen, neuronalen und psychischen Abläufe sind miteinander verbunden. Eine Differenzierung der Feinwahrnehmung wirkt sich demnach stets positiv auf die gesamte Funktion aus, unabhängig davon, welches spezielle Detail gerade in den Blick genommen wird. Ein guter Vergleich dazu ist das Kaleidoskop: Jede kleinste Drehung verändert das Gesamtbild. Im Vergleich zur Wirkung ist der Aufwand minimal, der Vorgang also äußerst effizient.
Die hierarchischen Strukturen zwischen den Teilfunktionen zu kennen, ist nützlich für systematischen Unterricht. Dieses Wissen ersetzt aber nicht die individuelle Entwicklung eines Gespürs für die momentanen Erfordernisse in Bezug auf die eigene Stimme. Die außerordentliche Vielschichtigkeit der physischen und mentalen Abläufe kann in der Gesamtheit nur durch ganzheitliche Wahrnehmung erkannt werden. Ihre Komplexität ist für einen schematischen theoretischen Überbau viel zu kleingliedrig. Eine auf alle anwendbare Methode kann es darum nicht geben.
Die ausgewählten Übungen sind bewusst logisch und schlicht aufgebaut. Keine komplizierten musikalischen Aufgaben sollen die neu entdeckten Empfindungen und den sensiblen Entwicklungsprozess überfrachten. Unterbewusste Bewegungsmuster können nur dann effektiv umprogrammiert werden, wenn möglichst wenige Assoziationen zu eingefahrenen Strategien geweckt werden. Bei jeder Irritation greift das Gehirn sonst auf die gewohnte automatische Steuerung zurück, und der Lernerfolg wird zunichtegemacht. Die sängerische Öffnung der oberen Atemwege ist nur durch eine sehr behutsame und langsame Vorgehensweise zu erreichen. Die grundlegenden Bewegungsabläufe müssen in langsamem Tempo gelernt, geduldig eingeübt und automatisiert werden, um stabil angesteuert werden zu können.
Um seinen spezifischen Blickwinkel auf funktionales Unterrichten zu beleuchten, lasse ich Eugen Rabine hier am besten selbst zu Wort kommen:
…„Die funktionale Stimmpädagogik fordert einen Prozess der positiven Verstärkung. Das Lernen kann dabei als Weg (Erkenntnisprozess) beschrieben werden. Daraus folgt, dass wir bei jedem Entwicklungsschritt einen Prozess der Entdeckung und des Aufbaus der einzigartigen Stimme dieses Menschen als physischen Äußerung seiner Identität und seines Fortschritts folgen und gleichzeitig stets die universellen Gesetze der Physik, Physiologie und Psychologie berücksichtigen. Durch eine trainierte und sensibilisierte Wahrnehmung erlebt und vergleicht der Singende die momentanen physiologischen-akustischen Empfindungen mit seinem mentalen Konzept und seiner kommunikativen Absicht. Der daraus resultierende reflektorische Regelkreis zwischen Gehirn und Körper ist die Grundlage der Stimmkontrolle. So wie der Lehrer nach seinem Konzept lehrt, so singt der Sänger seinen Vorstellungen entsprechend, weil sein Bewusstsein, sein Körper und seine Gefühle eine Einheit sind.“... Eugen Rabine, August 2001 (Renata Parussel, „Lieber Lehrer, lieber Schüler“, S. 9 f.)
Seine Schüler führen in seinem Sinne sein Lebenswerk weiter. Auf folgenden Websites sind weitere Informationen zu finden zum Thema Funktional Singen sowie zu Schulen und Lehrkräften, die nach seinen Erkenntnissen arbeiten:
hilkea-knies.de
Für detailliertere Anleitungen zur funktionalen Vokal- und Konsonantartikulation empfehle ich die praktischen Einheiten auf der POVT- Site von Susanne Eisch oder auch das Buch „Lieber Lehrer, lieber Schüler“ von Renata Parussel. Hier möchte ich nur einen grundsätzlichen Eindruck davon vermitteln, welche Art von Übungen dafür übereinstimmend im funktionalen Unterricht nach Rabine zur Anwendung kommen. Die Übungssequenzen sollen ein allgemein anwendbares Grundprinzip vermitteln. Sie bieten eine Vielzahl an Kombinationsmöglichkeiten, je nach angestrebter Zielsetzung. Die tonalen Abfolgen und Vokalverbindungen und auch die Varianten in Bezug auf die musikalische Artikulation werden in sinnvoller Weise an die gerade anstehenden Lernschritte angepasst. Sämtliche funktionalen Übungsabläufe sind vom Aufbau her nach logischen, in physischer und psychischer Hinsicht funktional begründbaren stimmtechnischen Aspekten ausgewählt und für viele verschiedene pädagogische Zielsetzungen geeignet. Auch in der Kombination mit unterschiedlichen Konsonanten werden sie eingesetzt. Das geschieht allerdings sinnvollerweise erst später im Verlauf der Ausbildung, denn beim Singen geht es im Unterschied zum Sprechen um die Optimierung der klangtragenden Vokale. Konsonanten wirken für den funktionalen Ablauf in den meisten Fällen eher störend. Aufgrund der gerade im Deutschen für die Textverständlichkeit nötigen Dominanz von Konsonanten beim Sprechen muss die Gesangsfunktion schon so sicher abrufbar sein, dass sie beim Singen von Text nicht mehr durch den Gebrauch von Konsonanten gestört oder ausgehebelt wird. Sobald das gewährleistet ist, können Konsonanten in geeigneter Weise in die Gesangsübungen eingebaut werden, um ihre Bildung statt in der Sprachgewohnheit im Sinne der Gesangsfunktion zu optimieren.
ÜBEN UND UNTERRICHTEN
Aus funktionaler Sicht bedeutet Üben das Programmieren neuer, erweiterter Anwendungen, das „Updaten“ von bestehenden Mustern, aber auch das Verbessern bzw. Verändern oder Löschen von bestehenden fehlerhaften oder ineffektiven Programmen und Gewohnheiten.
Ein genetisch angelegter, selbstregulierender und selbstoptimierender Prozess muss eigentlich nicht geübt werden. Die Tonproduktion für den Prozess des Singens läuft bei Kindern aber noch anders ab als bei Erwachsenen, nämlich in der Überdruckfunktion. Das liegt an den anderen akustischen Verhältnissen im kindlichen Körper. Jeder erwachsene Mensch muss also seine von der Kindheit her gewohnte Singweise ändern und lernen, in der Unterdruckfunktion zu singen. Dafür gibt es in der heutigen Zeit fast keine Vorbilder mehr, so dass eine entsprechende Prägung im frühen Kindesalter gewöhnlich nicht mehr stattfindet.
In der Popkultur wird das Singen im Überdruck ohne Vibrato ins Erwachsenenalter mit hinübergenommen. Es bestimmt heute maßgeblich die Hörgewohnheiten der meisten Menschen. In früheren Generationen haben oft auch Laien mit Vibrato gesungen. In anderen Ländern ist das teilweise auch heute noch so. Der sprichwörtliche italienische Pizzabäcker ist ein typisches Beispiel dafür. Diese Veränderung hat sich etwa Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts vollzogen, wie man anhand alter Tonaufnahmen feststellen kann. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass nach den beiden Kriegen im zwanzigsten Jahrhundert latent noch sehr viel Aggression das Gefühlsleben der Menschen geprägt hat. Der Zustand von Angstfreiheit, Freude und Gelöstheit, der für das Singen so elementar wichtig ist, braucht eine Entsprechung im sozialen Umfeld, damit er sich wirklich einstellen kann. Singen ist ein alle Bereiche öffnender Vorgang ist. Es müssen also alle Schutzhaltungen dafür gelöst werden. Wenn die Voraussetzungen dafür nicht gegeben sind, liegt eine Klangerzeugung im Überdruck emotional näher.
In diesem Sinne hat auch Eugen Rabine unterrichtet: Seine Philosophie war, durch die Kultivierung der öffnenden, einladenden Komponenten beim Singen und die daraus resultierenden angenehmen Gefühle, die nichts von Angst, Enge und Aggressivität haben, im singenden und im zuhörenden Menschen der Zustand von innerem Frieden und Versöhnung zu verstärken. Für ihn war das ein ganz wesentliches Ziel des funktionalen Gesangs.
Bei der Gesangsfunktion sind die Zusammenhänge auf körperlicher, neuronaler und psychischer Ebene bei der sängerischen Tonproduktion sehr komplex und die Abläufe entsprechend störanfällig. Um sie zu optimieren, ist also ein sehr feinfühliges Eingreifen in unterbewusst gewordene Prozesse notwendig. Abgeleitet von der Feldenkraismethode bedeutet das die Beobachtung des Ist-Zustandes, ohne zu werten. Das gilt gleichermaßen für lernende wie auch für lehrende Menschen. Die Unterscheidung von richtig und falsch ist in der Wahrnehmung des augenblicklichen Seinszustandes nicht existent. Sie ist zentriert auf das „Positive“, das Seiende, statt auf den Mangel, das „Negative“, Nicht-Seiende.
Sehr wichtig sind Pausen während des Übens, damit das Gehirn das Erkannte abspeichern kann. Auf diese Weise wird das emotionale Gedächtnis umprogrammiert.
Für das Unterrichten bedeutet das zuerst, mit positivem Blick einen Gesamteindruck von der Schülerin, dem Schüler zu gewinnen: Wie ist die momentane körperliche und mentale Verfassung, wo liegen die Interessen und Zielvorstellungen? Durch weiterführende Impulse können daraufhin Dinge neu verknüpft und Teilbereiche der inneren Konzepte verändert oder verfeinert werden. Das geschieht am besten durch Lenken der kinästhetischen Wahrnehmung, statt über Vorsingen und darauf folgendes Nachahmen. Sonst könnten die Gewohnheiten der Lehrkraft unbewusst übernommen werden, anstatt dass sich die Gesangsfunktion selbstständig optimiert. Selbst vorzusingen bietet zwei Risiken: Erstens gehen über die unterbewusste Imitation auch technische, funktionale Fehler, die beim Vorsingen nicht zu vermeiden sind, ungefiltert in die Wahrnehmung der nachzuahmenden Klänge über, einschließlich des persönlichen Timbres der Lehrperson. Zweitens können sich Schülerinnen und Schüler davon überfordert fühlen. Sie können naturgemäß noch nicht eins zu eins nachmachen, was sie hören, und könnten in Versuchung kommen, den gehörten Klang auf für ihre stimmliche Entwicklung ungünstige Weise zu kopieren.
Da funktionales Singen ein hochenergetischer Vorgang ist, ist es wichtig, beim Unterrichten möglichst die entsprechende Energie als Lehrperson selbst körperlich und emotional bereitzustellen. So kann dieses Energielevel durch Empathie von einem zum anderen Menschen übergehen.
Man könnte es sogar so formulieren, dass die Energie des Beobachtens das beobachtete Subjekt energetisiert, ein Phänomen, das im Zusammenhang mit der menschlichen Psyche in vielerlei Hinsicht auch für therapeutische Ziele genutzt wird. Beim Gesangsunterricht intensiviert diese Verbindung die Intuition beider Beteiligten, denn Singen ist eng mit der Intuition verknüpft. So können sich im besten Fall durch den Unterricht bei beiden neue Ideen, neue Einfälle entwickeln.
Im funktionalen Unterricht ist ein spiralförmiger Fortgang von groß nach klein die sinnvollste Vorgehensweise: Erst muss man lernen, große Bewegungen wahrzunehmen, damit man daraufhin in die Feinwahrnehmung gehen kann. Eigentlich ist beim Lernen komplexer Bewegungsmuster diese Reihenfolge immer die effektivste.
Je differenzierter und klarer dieser zusammengesetzte Reflex abläuft, desto leichter stellen sich Assoziationen zu reflektorischen Abläufen ein, die damit verknüpft sind. Das ist auch der Grund für die empirische Art des Unterrichtens, die die Gesangsschulen jahrhundertelang geprägt hat und genauso für die assoziative Formulierung vieler Lehrsätze aus dem Belcanto. Sehr oft ist sogar zu beobachten, dass sich die Assoziationen verschiedener professioneller Gesangslehrkräfte unterscheiden, je nach individuellen Vorerfahrungen und Standpunkten, ihre unbewussten Gesamtkonzepte aber mehr oder weniger übereinstimmen. Denn die Neurokopplungen, von denen sie hervorgerufen werden, sind von verschiedenen Teilfunktionen des zusammengesetzten Reflexes triggerbar.
Die Gefahr besteht, dass auf solchen Assoziationen beruhende Teilaspekte von der Lehrkraft ungefiltert weitergegeben werden. Weil besonders im Anfangsstadium der Ausbildung aber die Abläufe beim Singen oft noch störanfällig sind, kann das missverständlich sein und den Lernprozess in falsche Richtungen lenken. Ein Beispiel dafür ist die Assoziation zum Gähnen: Bei intensiver Rundung der Constrictoren und gleichzeitiger Aktivierung des inneren Lippenrings kann sich beim Singen das Gefühl einstellen, die dadurch erreichte Stabilität und Weite im Mund- und Rachenraum sei die gleiche wie beim Gähnen. Es besteht aber ein fundamentaler Unterschied darin, wie sich die Zunge dabei verhält: Beim Gähnen drückt sie den Unterkiefer nach unten und verschließt so teilweise den Vokaltrakt, beim Singen gibt sie ihn frei. Ein anderes Beispiel ist die Nasenatmung: Der Beginn der sängerischen Einatmung ist die Bereitstellung des oberen Riechweges. Durch sängerische Mundöffnung wird die Nase aber reflektorisch von innen durch die Gaumenhebung geschlossen . Wenn der Fokus der Lehrkraft ohne ausreichende Beachtung des zweiten auf dem ersten Abschnitt liegt, kann die entsprechende Aussage zu der Annahme führen, sängerische Einatmung wäre Nasenatmung. Das zeigt, wie wichtig es für das Unterrichten ist, die funktionalen Abläufe genau zu kennen.
Eugen Rabine hat für den funktionalen Unterricht einen speziellen Ablauf eingeführt: Die Lehrperson stellt eine auf eine Wahrnehmung bezogene Frage, und im direkten Anschluss daran folgt eine Gesangsübung. Erst nach der gesungenen Sequenz wird die Antwort formuliert. Die Frage an sich entwicket eine suggestive Wirkung ohne lenkende Anweisungen seitens der Lehrkraft. Der Körper beantwortet sie mit seiner veränderten Reaktion, ohne dass der analytische Verstand eingreift. Würde man die Frage vor dem Singen der Übung aus dem Gedächtnis, also der Vorerfahrung heraus beantworten, müsste man zuerst darüber nachdenken. Dadurch würden andere, analytisch arbeitende Gehirnareale angeregt. Dann könnte die Antwort leicht durch ungenaue und fehlerhafte Erinnerungen, Überzeugungen oder auch Vorsätze verfälscht werden. Das Formulieren einer Antwort mit eigenen Worten nach der Erfahrung des Singens ist sehr wichtig für den Lernprozess. So wird das, was man erlebt und gespürt hat, noch bewusster und kann daraufhin in der Erinnerung abgespeichert werden. Außerdem wird auf diese Weise ein Raum geöffnet für eigene Assoziationen. Das ermöglicht der Lehrkraft die direkte Kommunikation mit den Schülerinnen und Schülern über ihre persönliche Feinwahrnehmung und die individuellen Schlüsse, die sie daraus ziehen. Aufgrund der von Mensch zu Mensch unterschiedlichen Synästhesie werden durch diese Beschäftigung mit den subtilen Empfindungen beim Singen bei jedem Einzelnen spezielle individuelle Marker gesetzt, die das Wahrgenommene codieren und dadurch für später abrufbar machen.
Im Anschluss daran ist es wichtig, die erkannten neuen bzw. wiederentdeckten oder verbesserten Bewegungsabläufe auch muskulär einzutrainieren. Der Tonus und die Aktivität nahezu der gesamten Körpermuskulatur ist bei richtigem funktionalem Singen außergewöhnlich hoch, die dabei ablaufenden Bewegungen jedoch äußerst subtil. um das leisten zu können, ist eine extrem hohe Spannkraft und Elastizität der beteiligten Muskelgruppen erforderlich. Nur ein starker Muskel ist auch zu großer Differenzierung seiner Bewegungen fähig. Darum muss die Fähigkeit, funktional gesund und effizient zu singen, trainiert werden wie eine Hochleistungssportart.
TRANSFER IN DIE LITERATUR
Die Funktion des Singens ist von Natur aus im Körper angelegt. Die Primärfunktionen der daran beteiligten Körperbereiche werden für die Phonation in dieser speziellen Weise zusammengesetzt. Gesangsunterricht ist darum eher mit dem Bau eines Instruments vergleichbar als mit dem Erlernen einer bestimmten Spieltechnik oder gar der künstlerischen Ausbildung, die die Interpretation von Musikwerken zum Ziel hat. In welcher Form sich die Ausführenden zu diesem Zweck der einzelnen Faktoren bedienen, um damit „Musik zu machen“, ist ein zweiter Schritt, der nur bedingt mit dem ersten zu tun hat. Eigentlich müsste es sogar verschieden ausgebildete Lehrkräfte für die beiden Sparten Gesangsausbildung sowie künstlerische, interpretatorisch-stilistische und musikhistorische Ausbildung geben. Die dafür nötigen Wissensgebiete unterscheiden sich grundlegend voneinander und sind bislang auch nur in Ausnahmefällen gemeinsam bei Gesangslehrkräften anzutreffen. Für die Sängerin, den Sänger ist es aber elementar wichtig, den Transfer vom „Programm“ für funktionale Tonerzeugung, das im Unterricht erfahren und optimiert worden ist, zur Ausübung der Kunst des Singens zu gelangen.
Um verschiedene Musikstile adäquat und aufführungspraktisch stimmig anbieten zu können, muss die jeweilige Art zu singen teilweise relativ stark modifiziert werden. Dabei ist es unvermeidlich, dass in diesem Zusammenhang Abstriche gemacht werden zugunsten von Werktreue und der Ausführung von künstlerischen und klanglichen Vorstellungen sowohl der Künstlerinnen und Künstler selbst als auch aller anderen für die musikalische Interpretation zuständigen Personen. Besonders für die Interpretation von spätromantischer und auch zeitgenössischer Musik, bei der der Orchesterapparat oft außergewöhnlich groß ist, oder die Erwartungen an die Singstimme stark von den Möglichkeiten einer gesunden Stimmbehandlung abweichen, müssen oft grenzwertige Kompromisse eingegangen werden. Das ist sicher ein Grund für die unter Gesangslehrkräften weit verbreitete Ausrichtung auf Sitztechniken für den Unterricht, denn sie verstärken vor allem die Frequenzen von 2000-4000 hz, die im Gehirn ein Alarmsignal auslösen, weil sie auch beim Schreien erzeugt werden. Sie stimmen mit der Eigenresonanz des menschlichen Außenohrkanals überein. Deshalb „kommen diese Klänge über das Orchester“. Das Ziel dabei ist, sich trotz der durch diese Entwicklungen ungünstiger gewordenen Umstände auf der Bühne bemerkbar machen, Gehör verschaffen zu können. Die sogenannte „Durchschlagskraft“ der Sängerstimme ist zu einem entscheidenden Faktor geworden, mit dem das Gelingen einer Karriere steht und fällt.
Umso wichtiger ist es, einen möglichst nachhaltigen Umgang mit den eigenen stimmlichen Ressourcen zu pflegen. Zum Glück stellen geringfügige Abweichungen von der optimalen Stimmbehandlung aber kein grundsätzliches Problem dar, solange die Gesangsfunktion dabei der stabil leitende Parameter bleibt. Zum Vergleich: Auch beim professionellen Tanz und im Ballett ist eine der körperlichen Funktionsweise entsprechende, gesunde Technik von allergrößter Wichtigkeit. Trotzdem kommt es auch da nicht selten zu ungleichmäßigen oder teilweise asymmetrischen Belastungen. Durch die gut trainierte Muskulatur ist der Körper aber imstande, sie abzufedern und sich danach vollständig zu regenerieren, wenn ihm ausreichende Pausen gewährt werden. Auch beim professionellen Singen ist es bis zu einem gewissen Grad möglich, die Anforderungen, die die Interpretation mit sich bringt, in geeigneter Weise zu „übersetzen“, um eine möglichst große Annäherung an die funktionale Zielsetzung zu erreichen. Das anzuleiten, ist auch Aufgabe von praxisnahem funktionalem Unterricht.
Eugen Rabine, selbst neun Jahre lang praktizierender Opernsänger auf diversen Bühnen in den USA und in Europa, war auch in dieser Hinsicht ein sehr erfahrener und pragmatischer Lehrer und Ratgeber. Zwar war sein Unterricht ausgerichtet auf die „Neu- und Umprogrammierung“ der sängerischen Strategien, die er bei seinen Schülerinnen und Schülern vorfand, denn darin sah er die primäre Aufgabe von Gesangspädagogik. Künstlerische und bühnentechnische Aspekte waren ihm aber natürlich trotzdem vertraut aufgrund seiner beruflichen Laufbahn. Daher hatte er stets im Blick, dass das Hauptziel der Entwicklung von funktionalem Singen bei angehenden Sängerpersönlichkeiten eine langjährige professionelle Ausübung des Sängerberufs bei durchgehender stimmlicher Gesundheit und Leistungsfähigkeit ist. Er war allerdings der Meinung, dass von Gesangslehrenden vor allem „viel Wissen verlangt wird, das außerhalb der musikalischen Gesangsnotenwelt liegt.“ (Renate Rabine, „Die theoretischen Werke von Eugen Rabine - vol.1“, S. 118)
Sind die Grundlagen für die spezielle sängerische Artikulation gelegt, bietet sich aus rein funktionaler Sicht eine ganz bestimmte Vorgehensweise an, um ein Stück zu erarbeiten. In der Unterrichtspraxis ist das situationsbezogene Einflechten von funktionalen Details in die Literaturarbeit sicher eher realisierbar, besonders bei der Arbeit mit Studierenden, die schon im Beruf unterwegs sind. Trotzdem möchte ich hier einen detaillierten Ablauf beschreiben, gewissermaßen als Gerüst, an dem man sich gegebenenfalls orientieren kann:
Zu Beginn kann die Melodie auf einem bequemen Vokal gesungen werden, vorzugsweise auf offenem „o“, oder auf zwei wechselnden Vokalen, zum Beispiel dunklem „a“ und offenem „o“. Das erhöht die Flexibilität und beugt starren Artikulationshaltungen vor. Im nächsten Schritt ist es wichtig, sich die klingenden Vokale des Textes bewusst zu machen. Sie stimmen sehr oft nicht mit den geschriebenen Vokalen überein.
Diese Vokalfolge kann dann auf einem Ton bzw. auf zwei Tönen im lockeren Wechsel gesungen werden. Daraufhin werden Melodie und Vokalfolgen zusammengefügt.
Um die Konsonanten in der gewünschten Feinheit und Präzision zu erkennen, kann danach beispielsweise der vollständige Text präzise flüsternd gesprochen werden, mit möglichst wenig Luftdruck, am besten sogar während einer Einatmung. Das löst nämlich ein öffnendes Programm der Mundraumgestaltung aus, was dann dominant vor der schließenden Konsonantbildung wirkt. Sängerische Konsonantartikulation von der Sprachgewohnheit abzugrenzen ist ein komplexes Unterfangen, das im funktionalen Unterricht normalerweise erst dann in Angriff genommen wird, wenn die Funktion schon stabil verfügbar ist.
Im letzten Schritt fügt man die Konsonanten zum Stück dazu, ohne die stehende Klangwelle im Rachenraum damit zu stören. Für die Bildung der meisten Konsonanten muss der Kiefer geschlossen werden. Das bedeutet aber, dass der Kehlkopf dann zu hoch steht für eine gesunde funktionale Tonerzeugung. Klinger werden daher immer etwa auf Sprachtonhöhe artikuliert, denn für ihre Bildung ist ja Stimmlippenschwingung nötig. Um den Übergang zum gesungenen Vokal jedoch unhörbar, ohne erkennbaren „Schleifer“ zu bewerkstelligen, kann man sich dafür zum Beispiel einen Oktav- oder Quintsprung vorstellen. Dass diese Intervalle in den größtmöglichen ganzzahligen Verhältnissen zur angestrebten Tonhöhe stehen, erleichtert den Stimmlippen diesen gedachten Tonsprung. Auch ein echter Tonsprung wird ja nicht willentlich angesteuert, sondern über die Tonvorstellung unwillkürlich ausgeführt. Dafür ist allerdings einige Übung nötig.
Ist während des Stücks ein Nachatmen nötig, so geschieht das im Idealfall sehr schnell, effektiv, mühelos und geräuschlos. Die dauernd vorhandene Dominanz der Einatmungsmuskeln löst bei Beendigung der Ausatmungsaktivität sofort eine Einatmungsbewegung aus. Die reflektorische Öffnung der Stimmlippen bei Beendigung der Schwingung und die schon vorhandene optimale Raumgestaltung durch den Vorgang des Singens beseitigen praktisch alle Widerstände in den Atemwegen. Diese sängerische Nachatmung führt dann genauso effektiv und mühelos zum nächsten Toneinsatz durch die Selbstschließung der Stimmlippen.
Anders ausgedrückt, der Modus des Singens wird das ganze Stück hindurch beibehalten und erst nach dem letzten Ton beendet.
WISSENSWERTES IN KÜRZE FÜR DIE CHORLEITUNG
Einen Chor zu leiten bedeutet nicht zuletzt, für die stimmliche Gesundheit der Chormitglieder Verantwortung zu übernehmen, sie zu pflegen und zu fördern. Außerdem ist man, wenn man diese Position bekleidet, automatisch eine Hauptbezugsperson in Bezug auf Singen für alle Chormitglieder und oft die einzige professionelle Quelle für alle Fragen um Gesang und Stimmpflege. Daher ist es sehr wichtig für alle in diesem Beruf, über die anatomischen und neurologischen Voraussetzungen des Singens so gut Bescheid zu wissen, dass die funktionale Gesunderhaltung der ihnen anvertrauten Stimmen gewährleistet ist.
Die spezifischen Bewegungen beim Dirigieren können im Idealfall sogar sängerisch günstige Körperfunktionen der Chormitglieder empathisch anregen und so die Gesangsfunktion unterstützen, optimalerweise sogar auslösen. Speziell der Auftakt ist ein Pendant zu der brustkorberweiternden Bewegung, die für die sängerische Einatmung von größter Wichtigkeit ist. Das Gegenteil ist allerdings auch möglich, denn bestimmte Dirigierbewegungen können eine störende Wirkung auf das Singen entfalten. Schnelle, ruckartige Bewegungen etwa triggern die Assoziation von Erschrecken und können daher Schließimpulse bei den Singenden aktivieren. Weich fließende, öffnende Bewegungen dagegen unterstützen die Abläufe beim Singen.
Leider gibt es innerhalb der Chorleitungsstudien noch keine flächendeckende funktionale Ausbildung, so dass sich ein paar Missverständnisse und Irrmeinungen über das Singen hartnäckig zu halten scheinen. Genaue Erklärungen für die einzelnen Teilbereiche finden sich in der Enzyklopädie. An dieser Stelle möchte ich nur auf spezielle Themenbereiche rund um Chorsingen und Chorleitung hinweisen.
IST SINGEN LOCKER?
Sehr oft wird in der Chorarbeit darauf hingewiesen, dass man beim Singen locker bleiben sollte. Die vordergründige Assoziation von unverkrampfter, entspannter Muskulatur ist sehr verständlich: Es ist tatsächlich elementar wichtig, dass die Mimikmuskulatur in Gesichts- und Halsbereich frei von Dauerkontraktionen ist, die eine Dehnung dieser Muskelgruppen behindern würden. Daraus ergibt sich der primäre emotionale Zustand von „Lockerlassen“, weil die Mimik direkt mit der Gefühlsebene verknüpft ist. Singen spielt sich aber natürlich nicht nur im Gesicht und oberen Rachen ab, auch wenn das Hauptaugenmerk meistens auf dieser Körperregion liegt, weil das der Ort des sängerische „Instruments“ ist . Aber auch da gibt es Muskeln, deren Kontraktion die Gesangsfunktion überhaupt erst möglich machen.
Der innere Lippenring als äußerster Schutz der Atemwege, vor allem im Bereich der Mundwinkel, muss beim Singen immer aktiv sein. Sonst übernehmen reflektorisch andere Muskeln, speziell die Zunge und die Schluckmuskeln, diese Aufgabe und verengen den Vokaltrakt, um den Schutz zu gewährleisten.
Die Schlundmuskulatur und die Zunge sind ebenfalls aktiv, aber nicht wie zum Schlucken, sondern wie bei einer sehr großen Einatmung wie beispielsweise beim Schwimmen. Das dient der Öffnung und Stabilisierung des Vokaltrakts.
Das Zwerchfell, der Haupt-Einatmungsmuskel, spannt sich für die sängerische Einatmung so stark an wie zu keiner anderen Körperaktivität. Es verliert diese Kontraktion während des Singens niemals vollständig, ist also niemals „locker“. Das gleiche gilt für die sekundären Einatmungsmuskeln, die Brust- und oberen Zwischenrippenmuskeln. Die bei der Ausatmung aktive schräge Bauchmuskulatur dagegen ist bei vielen Menschen unbewusst dauerhaft angespannt auf Grund eines automatisierten Schutzreflexes, manchmal auch aus ästhetischen Gründen. Es ist elementar wichtig, sie zu entspannen, damit eine Dehnung dieser Muskulatur bei der Einatmung möglich wird. Das wird emotional als Loslassen auch von psychischer Anspannung empfunden, weil die Schutzhaltung ja psychische Ursachen hat.
Die stimmerzeugenden Muskeln selbst arbeiten im Wechsel von Anspannung und Dehnung und erzeugen so langsame, laute und schnelle, leise Schwingungen, also tiefe und hohe Klänge. Dominant aktiv ist dabei immer der Muskel, der sich dehnen lässt. Das kann auch ein Grund für die Assoziation sein, Singen sei locker. Denn der Muskel, der beim Singen den ganzen Körper koordiniert, ist der Vocalis selbst. Und der muss ja für die Erzeugung von hohen Tönen Dehnung erlauben, bis zur vollständigen Ausdehnung bei etwa fis“.
Damit der komplexe Vorgang des Singens überhaupt stattfinden kann, muss die gesamte Aufrichtungsmuskulatur des Körpers einen sehr hohen Tonus bereitstellen. Es geht, vereinfacht gesagt, darum, den Atemdruck unter den Stimmlippen zu dosieren, um die extrem feinen Schwingungen nicht zu stören.
Das alles ist mit großer Aktivität des ganzen Körpers verbunden und, so betrachtet, alles andere als „locker“. Die Muskulatur ist mit Ausnahme einiger Anteile der Mimik wie etwa der Augenringmuskulatur entweder aktiv kontrahiert oder gedehnt. Funktional gesundes Singen mit all seinen Facetten ist Hochleistungssport im Stehen. Das gilt, wie bei jeder Sportart, für Profis genauso wie für Nicht-Profis.
MÄNNERSTIMME / FRAUENSTIMME
Männerstimme und Frauenstimme sind anatomisch annähernd gleich. Die Stimmlippen beim Mann sind um etwa ein Viertel länger als bei der Frau. Der Unterschied im Klang beruht auf der stumm mitschwingenden Masse. Das ist vergleichbar mit dem Unterschied im Klang einer Violine und eines Violoncellos beim Spielen der selben Tonhöhe.
Die Männerstimme hat mehr Muskelmasse und dadurch auch mehr Potential, Kontraktionsspannung aufzubauen. Sie kann also von der Phonstärke her lautere Töne erzeugen. Frauenstimmen sind dadurch gut hörbar, dass ihr Frequenzspektrum in einem von unseren Ohren besonders intensiv wahrnehmbaren Bereich liegt. Babys machen sich in diesem Frequenzbereich bemerkbar. Real ist der Klang von Frauenstimmen aber leiser als der von Männerstimmen.
Der Übergang zwischen „Bruststimme“ und „Kopfstimme“ ist bei Männer- und Frauenstimmen annähernd auf der selben Tonhöhe, nämlich ungefähr bei es`. Er ist ein akustisches Phänomen und kein anatomisches: Die Eigenresonanz der Luftröhre, die bei Männern und Frauen etwa gleich gestaltet ist, hat etwa diese Frequenz. Beim Singen dieser Tonhöhe wird sie zur Vibration angeregt, ähnlich, wie ein Gefäß bei bestimmten Frequenzen mitvibriert. Dadurch wird regelmäßige Stimmlippenschwingung gestört und der Vocalismuskel reagiert mit einer Schließtendenz, denn seine Primärfunktion ist Schließen bei jeder unerwarteten Luftbewegung, um die Lunge zu schützen. Bassstimmen singen also meistens in der nach dieser Eigenvibration der Luftröhre benannten Bruststimme, Sopranstimmen in der Kopfstimme, die ihren Namen von der Verstärkung hoher Frequenzen im Gaumenbereich hat, und Tenor- und Altstimmen müssen den Übergang ausgleichen.
Die Höhe der Frauenstimme folgt den selben akustischen Gesetzmäßigkeiten wie das Falsett der Männerstimme. Die Sprachebene von beiden liegt aber meistens im Frequenzbereich der Bruststimme.
KINDERSTIMME
Das Schreien des Säuglings ist ermüdungsfrei, weil wir ohne Stimmbänder zur Welt kommen, also ohne den Vocalismuskel umhüllende Schleimhautligamente. Die Verbindung zwischen Vocalis und Ligament ist erst mit Vollendung des 17. Lebensjahres abgeschlossen. Außerdem steht beim Säugling der Kehlkopf ganz hoch. Die Tonerzeugung ähnelt einem Pfeifen, wobei der Mundraum als Resonator fungiert.
Je jünger ein Kind ist, desto mehr atmet es in den Bauch. Die Form des Brustkorbs beim Kleinkind ist im Verhältnis zu der beim erwachsenen Menschen viel weniger gebogen, eigentlich dreieckig. Die Entfächerung der Rippen durch die Kontraktion des Zwerchfells und der sekundären Einatmungsmuskeln ist je nach Alter noch gar nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich. So muss bei der Atmung die Bauchdecke reagieren. Auch die Körperaufrichtung ist noch nicht vollständig herstellbar und der Vokaltrakt ist kürzer. Das bedeutet, Kinder singen in einem Überdruckmodus, zumindest bis etwa zum achten Lebensjahr, meistens aber bis zur Pubertät. Deshalb haben sie auch kein Vibrato. Das ist ein Phänomen der Stimme des erwachsenen Menschen, das sich erst bei abgeschlossener Aufrichtung einstellen kann.
Kinderstimmen haben einen schwachen Grundton und einen schwachen ersten Vokalformanten wegen der geringen Muskelmasse. Außerdem kann der weiche Gaumen noch nicht gehoben und der Vokaltrakt deshalb nicht vollständig aufgespannt werden. Aus diesen Gründen klingen Kinderstimmen heller als die Stimmen von erwachsenen Frauen. (Belcantobegriff: „voce bianca“) Aufgrund ihres kurzen Vokaltrakts ist es Kindern möglich, bis in hohe Lagen praktisch alle Vokale vollständig zu bilden. Die Formantbereiche der Vokalformanten werden wegen der anderen akustischen Verhältnisse nicht überschritten. Deshalb ist bei ihnen die Sprachverständlichkeit besser als bei Frauenstimmen.
MITSPRECHEN
Viele Chorleitende sprechen die gesungenen Texte beim Dirigieren mit. Das eröffnet die Möglichkeit, während des Musizierens den singenden Personen sängerisch vorteilhafte Artikulationsbewegungen zu vermitteln. Wenn man nicht selbst singt, bietet sich die Gelegenheit, die Texte in der Einatmung zu artikulieren statt wie beim Singen während der Ausatmung. Das System ist dadurch im Öffnungsmodus. Die für die Erzeugung der konsonantentypischen Geräusche notwendigen schließenden Artikulationsbewegungen entfallen, denn der mitartikulierte Text kann und soll ja unhörbar sein. Dadurch ergibt sich ein völlig anderes, öffnendes Konzept der Mundöffnung. Es kommt der angestrebten sängerischen Konsonantartikulation bemerkenswert nahe. Die lautmalenden Begriffe „Schlabbern“, Schlecken“ und „Schlürfen“ machen das deutlich. Die Entstehung dieser Bezeichnungen erklärt sich augenscheinlich aus der Tatsache, dass alle diese Tätigkeiten entsprechende Geräusche produzieren, weil sie im Einatmungsmodus ausgeführt werden.
MUNDÖFFNUNG
Caruso hat mit einem Flaschenkorken zwischen den Zähnen geübt. Die optimale Mundöffnung beim Singen beträgt etwa zwei Fingerbreit zwischen den Zahnreihen. Öffnet man den Kiefer weiter, schließt der Rachenraum wieder, weil der Zungenrücken nach hinten gedrängt wird und den Kehldeckel hinunterdrückt. Dadurch senkt sich auch das Gaumensegel. Wegen der zu großen Mundöffnung ist auch die häufig empfohlene Gähnstellung, auch Gähnweite genannt, eigentlich kontraproduktiv. Die optimale Weite des Vokaltrakts wird auf diese Weise wieder verringert. Ist die Entfernung der vorderen Zahnreihen voneinander kleiner als etwa zwei bis drei Zentimeter, steht der Kehlkopf zu hoch.
Deshalb ist es sinnvoll, Einsingübungen zu wählen, bei denen der Kiefer auf der Position eines dunklen „a“ geöffnet ist, wobei der Lippenring in aktiver Dehnung bleibt. Sie sollten auch vom Konsonantengebrauch her so sängerisch wie möglich gewählt sein, also mit drucklosen, öffnenden Konsonanten oder ganz ohne. Summen ist in diesem Zusammenhang nicht zu empfehlen. Der Kehlkopf steht dann wegen des geschlossenen Kiefers nicht and der tiefen Position, die er für das Singen einnehmen sollte. Das gilt auch für das beliebte „Lippenschwirren“ oder auch „Kutscher-r“. Die Erfahrung, dass auf diese Weise oft sehr hohe Frequenzen erreicht werden ist der Tatsache geschuldet, dass das ganze System durch die Kieferschließung verkleinert und der Vokaltrakt verkürzt wird. Man imitiert damit sozusagen die die akustischen Verhältnisse, die bei Kindern anzutreffen sind. Darum ist der erzeugte Klang auch so hell. Für eine Klangproduktion mit geöffnetem Vokaltrakt und funktional günstigen akustischen Voraussetzungen hat das keinen Nutzen. Das heißt, man trainiert etwas ein, was so für den angestrebten Zweck nicht verwendbar ist.
NASENATMUNG / MUNDATMUNG
Caruso wird der Satz zugeschrieben: „Ich atme beim Singen, als ob ich an einer Rose rieche.“ Die Nase ist ausgestattet mit einem unteren „Ruheluftweg“ und einem oberen Luftweg über das Riechorgan. Die einzige Möglichkeit, das Gaumensegel „willentlich“ zu heben, ist die über die Vorstellung des Riechens. Sie ist verknüpft mit der des Schmeckens und damit der Aktivierung der Zungenspitze und dem „Spitzen“ der Lippen.
Die sängerische Einatmung beginnt wie das Riechen durch die Nase, dann durch Mund und Nase. Ab etwa zwei Zentimeter Mundöffnung schließt das Gaumensegel von innen die Nase. Von da an folgt reine Mundatmung mit gedehntem oberen Atemweg. Bei geöffnetem Mund ist es ab einer bestimmten Öffnung nur mit gehobener Zunge möglich, durch die Nase einzuatmen. Reine Nasenatmung bewirkt einen Verschluss im gesamten Atemsystem. Das ist ihr evolutionärer Zweck. Sie ist deshalb für sängerische Atmung ungeeignet.
Nasalität ist das Gegenteil von Kopfigkeit. Sie wird erzeugt durch Zungendruck und flache Position des weichen Gaumens als Reaktion darauf.
REGISTER
Der Begriff Register ist irreführend. Eigentlich ist die Stimme ein Einregisterinstrument wie eine Saite, mit zwei Komponenten, nämlich Masse und Dehnung. Wie beim Stimmen einer Saite wird durch Dehnen des elastischen Materials eine Verlängerung und Verschmälerung erreicht. Das lässt die Tonhöhe des davon erzeugten Klanges höher werden. Oder, was die Saite nicht kann, der Muskel kontrahiert aktiv, wird dadurch dicker und kürzer, und der erzeugte Klang wird tiefer. Der den Stimmmuskel dehnende Antagonist ist der Ringknorpel-Schildknorpelmuskel. Er befindet sich vorne unten am Schildknorpel. Das dehnungsdominante Register wird durch die Kontraktion dieses Muskels erzeugt. Er dehnt das Ligament, das den Vocalismuskel umschließt. Das sind die eigentlichen Stimmbänder. Der entstehende Klang fühlt sich tatsächlich „höher“ an, weil damit vor allem hohe Frequenzen zur Resonanz angeregt werden. Sie werden aus Gründen der Resonanzverhältnisse des Vokaltrakts hauptsächlich im Kopfbereich verstärkt. Daher kommt der Begriff „Kopfstimme“. Bis zur Tonhöhe fis`` ist noch ein immer geringer werdender Masseanteil vorhanden. Darüber hinaus ist die Muskelmasse nicht abgekoppelt, sondern vollständig, längstmöglich gedehnt und passt sich der Schwingung des gedehnten Ligaments an. Das ist die tiefere Bedeutung des Begriffs „voix mixte“. Genauso ist es mit den Vokalen „u“ und „i“: Sie werden aus dem selben Grund, nämlich wegen der Aktivierung der Dehnungsfunktion bei ihrer Bildung, als „kopfig“ bezeichnet. Die „Bruststimme“ wird wegen der fühlbaren Vibrationen im Brust- und Bronchialbereich so genannt. Durch Kontraktion des Vocalis entstehen tiefe Frequenzen, die die Resonanz der Luftröhre anregen.
Das Phänomen von Brust- und Kopfstimme ist rein akustischer Natur: Entweder wird die Luftröhre zur Eigenvibration angeregt, oder nicht. In der Funktion des Vocalismuskels besteht dabei kein qualitativer Unterschied. Funktional gesehen ist die Dehnung der Stimmlippen, wie bei der Saite, ein gradueller Vorgang ohne Brüche.
SINGEN BIOLOGISCH BETRACHTET
Es ist laut Eugen Rabine der komplizierteste zusammengesetzte Reflex, der dem Menschen eigen ist, gehört aber wie alle Reflexe zum Grundpotential des Körpers. Beginn ist ein neurologischer Impuls durch den Bewegungsreiz der sich weitenden achten bis fünften Rippenpaare an die Nerven, die in der Wirbelsäule verlaufen. Eine spezielle Form der tiefen Einatmung, ab ca. 50% Lungenvolumen, löst ihn aus, vergleichbar mit der Auslösung des Niesreflexes, die ja auch einer sehr tiefen Einatmung bedarf.
Durch eine spezielle Mundöffnung ohne Zungendruck, ähnlich wie beim Trinken, und den Zug des Zwerchfells auf die Bronchien wird der Kehlkopf gesenkt. Als Reaktion auf Mundöffnung und diesen Zug hebt sich das Gaumensegel gegenläufig. Wie bei allen elastischen Materialien erzeugt auch hier Zug Gegenzug. Der weiche Gaumen wird nicht durch Druck der Zunge nach unten zu dieser Hebung angeregt, das würde den Rachenraum verengen. Das bedeutet im Umkehrschluss: Bei zu geringem Einatmungsvolumen wird der Gesangsreflex nicht ausgelöst. Auch dieses Phänomen hat die Klangerzeugung beim Singen mit dem Niesen gemeinsam: Auch da stoppt der Reflex, wenn das erforderliche Einatmungsvolumen nicht erreicht wird. Die Tonproduktion ist bei zu geringem Lungenvolumen anders organisiert und ähnelt dann eher dem Rufen oder Schreien.
Ist der Gesangsreflex soweit von ihm zuwider laufenden Gewohnheiten befreit, dass er dominant die Vorgänge beim Singen leiten kann, ist er selbstregulierend und selbstoptimierend. Allein die Wahrnehmung von angenehm und „stimmig“ reguliert ihn. Ein Bewegungsablauf wird immer von der neuronal feinsten Bewegung geleitet, und die üben in dem Fall die Stimmlippen aus („Fingerspitzengefühl“).
Die schließende Schutzfunktion des Vocalismuskels wird beim Singen durch seine kinetische Energie und Schließbereitschaft ersetzt. Er schließt aber nicht dauerhaft, sondern vollführt durch den Reflex ausgelöste regelmäßige, sehr schnelle Schwingungen.
Wie alle Reflexe wird der Gesangsreflex ausschließlich von den intuitiven Hirnregionen gesteuert ohne Eingreifen der analytischen Funktionen des Gehirns. Das hat weitreichende Konsequenzen auf die Herangehensweise beim Unterrichten und auch bei der individuellen Selbstoptimierung: Über reines Wissen ist es unmöglich, etwas so unbewusst Ablaufendes, Komplexes und mit dem Verstand überhaupt nicht Erfassbares sinnvoll zu beeinflussen. Die Regulationsmechanismen dafür laufen außerhalb der bewusst steuerbaren Gehirnareale ab.
Das ist ein Grund, warum Sängerinnen und Sänger sich wehren, wenn durch zu viele analytische Ansagen sich das System von der intuitiven auf die analytische Regulierung umschaltet: Dann funktioniert das körpereigene „Instrument“ nicht mehr optimal. Dadurch erhöht sich die Fehlerquote immer weiter, ohne dass die ausübende Sängerin, der ausübende Sänger etwas dagegen tun könnte. Natürlich ist das unbefriedigend und frustrierend, besonders für die Singenden, weil der Ansatz kontraproduktiv ist. Hier liegt auch ein Grund für die sprichwörtliche Emotionalität, die in der Sängergarde weit verbreitet ist: Ihre Arbeit, ihre „Technik“ kann nur optimal funktionieren, wenn sie von überwiegend positiver Gefühlslage und intuitiver Herangehensweise geprägt ist.
STIMMSITZ
Wo „sitzt“ die Stimme? Was bedeutet dieser Begriff? Während der Phonation entstehen Vibrationswahrnehmungen sowohl an und über den Stimmlippen als auch am oberen Ende des Vokaltrakts, am geschlossenen Gaumensegel.
Durch Dazwischenschieben einer Art Rampe mit Hilfe schräger Zungenhebung entsteht eine Brechung der stehenden Klangwelle. So wird die Bildung der Vokale „e“, „i“, „ä“, „ö“ und „ü“ ermöglicht und eine dritte Vibrationswahrnehmung am harten Gaumen erzeugt. Diese Wahrnehmung wird gerne als „Sitz“ bezeichnet. Sie ist sehr deutlich spürbar, meistens viel deutlicher als die primären Schwingungswahrnehmungen am unteren und oberen Ende der Klangsäule, weil sie an einem Knochen resoniert. Daraus hat sich die „Sitztechnik“ entwickelt. Da die oben genannten Vokale alle viele helle Frequenzen aufweisen, wollte man dies den dunkleren Vokalen „a“, „o“ und „u“ auch zugänglich machen durch eine ähnliche schräge Zungenhebung. Diese Vokale werden sängerisch aber hauptsächlich durch Kontraktion des Lippenrings gebildet, wie beim Saugen. Eine schräge Hebung des Zungenrückens für diese Vokale zieht den Kehlkopf mit hoch. Dadurch wird der Stimmklang zwar heller, verliert aber an tiefen Frequenzen und somit an Phonstärke.
In einer Klangsäule bilden sich immer so viele Teilfrequenzen des Grundtons, wie die Länge des Rohres ermöglicht. Sehr hohe Frequenzen, wie der sprichwörtliche Sängerformant, können daher nur in einem optimal langen Vokaltrakt entstehen, also bei tiefstmöglicher Position des Kehlkopfs. Durch die Sitztechnik werden auf Grund der Verkürzung des Vokaltrakts tiefere Teiltöne mit eher näselnder Klangfarbe erzeugt, die ganz hohen Frequenzen aber nicht ausgebildet. Die bestimmen aber die Tragfähigkeit, weil sie am weitesten hörbar sind, und weil Orchesterinstrumente sie nicht herstellen können.
Gleichzeitig ist das Ganze durch die suboptimale Kehlkopfposition auf Dauer stimmschädigend. Für die entsprechende Phonstärke muss mehr Luftdruck aufgewendet werden. Die Stimmlippen werden durch den Überdruck zu Masseankopplung anregt, um den durch das Hochziehen entstandenen Verlust von schwingender Muskelmasse auszugleichen.
TONVORSTELLUNG
Wie ist es praktisch möglich, „die Tonhöhe sauber zu treffen“? Was läuft da im Körper ab? Weil die Tonhöhe unbewusst reguliert wird über das interne Spannungsverhältnis der beiden Antagonisten, nämlich der Stimmlippen und des äußeren Kehlkopfmuskels, ist es auch nicht möglich, sie willentlich anzusteuern. Wir nehmen erst dann die Frequenz des Tones wahr, wenn wir eine Kontrolle der entstandenen Schwingung über das Hören gewonnen haben. Aber im Laufe der Zeit bildet sich dadurch ein Gefühl für Tonhöhen, eine Muskelerinnerung, die es ermöglicht, eine zuvor gehörte oder auch nur vorgestellte Frequenz voreinzustellen. Das ist im Grunde dasselbe Muskelspannungsgedächtnis, das jeder Mensch braucht, der ein Instrument lernt: Am Anfang hat man keinerlei Anhaltspunkte für Tonabstände. Aber nach und nach bekommt man durch Übung ein Gespür dafür und muss dann immer weniger korrigieren. Auf diese Weise kann man lernen zu spielen, ohne hinzuschauen. Man muss nicht mehr kontrollieren, wohin sich die Finger bewegen sollen. Es wird möglich, durch eine Art „Wünschen“ die Finger dazu zu bringen, die Töne zu treffen. Leider wird von Chorleitenden immer wieder gefordert, sich „schon den höchsten Ton in der folgenden Phrase vor dem Toneinsatz vorzustellen.“ Das führt logischerweise dazu, dass das System aufgrund seiner Vorerfahrung genau diese Frequenz vorbereitet. Beginnt nun aber die Phrase mit einem tieferen Ton, ist natürlich die Voreinstellung nicht optimal und demzufolge auch die Qualität der entstehenden Schwingung nicht.
Funktional richtig und für die Stimmgesundheit viel mehr zu empfehlen ist, den ersten Ton über die Tonvorstellung anzusteuern, und den Stimmlippen die Tonhöhenänderungen während des Singens zu überlassen. Sie sind dafür von Natur aus vorbereitet und können das am allerbesten. Nötig dazu ist nur eine sängerische Einatmung und Mundöffnung und die innere Vorstellung der Tonhöhe.
Es ist natürlich auch möglich, diese Tonhöhe am Instrument anzugeben. Das löst den selben Effekt aus, wie wenn man ihn sich vorstellt. Selbst für professionell singenden Chorleiterinnen oder -leiter ist es nicht empfehlenswert, während der Probenarbeit unkontrolliert selbst viel vorzusingen, weil damit unbewusst auch die persönliche Singweise der vorsingenden Person in die individuelle Voreinstellung mit übernommen wird. Die unbewusste Weitergabe von individuellen Stimmungen, Gewohnheiten und Fehlern ist aber kontraproduktiv. Der Vorgang des Singens läuft unbewusst und unsichtbar ab und ist obendrein stark mit Emotionen verknüpft. Deshalb ist er weder bewusst kontrollierbar noch durch Sinneseindrücke wie Sehen oder Hören direkt steuerbar, wie das beim Spiel von Instrumenten der Fall ist. Das bedeutet: Der singende Mensch bemerkt nicht vollbewusst, was er tut, und was er übernimmt.
Wenn das Vorsingen bewusst abläuft und Erklärungen dazu geliefert werden, warum eine Bewegung förderlich ist, können allerdings über Spiegelneuronen für das Singen günstige Prozesse dadurch angestoßen werden.
UNTERDRUCK UND ÜBERDRUCK IN PROBE UND AUFFÜHRUNGSSITUATION
Aus der Sicht des Publikums und derer, die einen Chor leiten, fällt ein visueller Aspekt ins Auge, der diametral gegen die funktionalen Bedürfnisse des „Instruments Mensch“ steht.
Es kann die Konzentration auf die Musik tatsächlich stören, wenn der Chor sich mehrfach während einer Probe oder Aufführung setzt und wieder aufsteht. Allerdings gilt es, die Abwägung zu treffen, was für die Musik wichtiger ist, ein gut choreographiertes, möglichst wenig störendes Erscheinungsbild der Ausführenden oder ein guter Klang. Bei Orchestermusikern wird nie in Frage gestellt, dass sie ihre Instrumente individuell absetzen können, wann immer sie das brauchen. Die Muskulatur kann sich dadurch erholen, und sie können daraufhin wieder optimal musizieren. Bei Sängern, deren Instrument der ganze Körper ist, wäre das eigentlich noch wichtiger, ja elementar notwendig. Denn die Aufrichtungsmuskulatur ist in zweiter Linie auch Atemmuskulatur. Wenn sie ermüdet, kann eine vollständige Einatmung nicht mehr erfolgen. Damit wird der Gesangsreflex auch nicht mehr ausgelöst. Kommt jetzt noch dazu, dass schwere Noten in den Händen gehalten werden müssen, wird der Brustkorb durch das Gewicht auf Dauer verengt. . Das kann dann auch auf emotionaler Ebene eine „belastende“ Situation werden, in der es schwer wird, befreit zu singen. Das kann dann auch in emotionaler Hinsicht eineDann wird gesundes Singen vollends unmöglich.
Eine Erleichterung wäre die Bereitstellung von Notenpulten, wie das bei Instrumentalisten selbstverständlich ist, obwohl ja ihre Instrumente durch die körperliche Position der Spielenden keinen Schaden nehmen. Das Mindeste wäre aber, dass die Sängerinnen und Sänger genügend Platz rechts und links von sich haben, um beim Halten der Noten die Ellbogen heben zu können, und so die Erweiterung der Rippen für die Einatmung zu ermöglichen. Müssen die Chormitglieder aber bei der Aufführung dicht gedrängt stehen und selbst die Noten halten, wie es immer noch allgemein üblich ist, macht sich das schnell im Klang bemerkbar: Er wird hart und unflexibel. Außerdem verliert er stark an Tragfähigkeit, weil zu viel Überdruck unter den schwingenden Stimmlippen den Vokaltrakt verengt und die Funktion des Schreiens auslöst. Das wiederum wirkt sich negativ auf das Hörerlebnis und die emotionale Botschaft aus: Aggressivität statt Wohlgefühl wird akustisch transportiert. Das hat natürlich entsprechende Auswirkungen auf die Zuhörerschaft und nicht zuletzt auf die Leiterin, den Leiter selbst.
Vielleicht ist das ein Grund dafür, dass manche Chorleiter Forteklänge für ungesund halten. Es ist wirklich so, dass durch Überdruck erzeugte laute Töne die Stimme strapazieren und außerdem unangenehm für die Zuhörenden sind. Es ist aber keine Lösung, wenn der Chor deshalb systematisch dazu angehalten wird, „die Stimme zu schonen“ und überwiegend piano zu singen. Denn bei leiser Dynamik muss der Luftfluss durch die Stimmfalte ja noch feiner dosiert werden, und dafür ist eine noch höhere Aktivität in der Einatmungsmuskulatur nötig. Obendrein wird die direkte Stimmmuskulatur durch laute Dynamik viel effektiver trainiert. Hier verhält es sich wie bei jedem anderen Muskeltraining auch: Bei größerer, funktional richtiger Belastung stellt sich ein besserer Trainingserfolg ein.
Durch dieses Missverständnis entsteht leicht ein Teufelskreis, der immer mehr in das Singen mit Überdruck führt: Sowohl die Einatmungsmuskeln als auch die Stimme selbst sind ohne funktional richtiges Training irgendwann nicht mehr in der Lage, auf Dauer die nötige Kraft für gesundes Singen bereitzustellen. Der Weg, Singen effizient und für Ausübende und Publikum angenehm zu gestalten, ist, die entsprechenden Muskelgruppen sinnvoll zu trainieren, so dass sie die Klangerzeugung in der Unterdruckfunktion leisten können.
Die Forderungen, „aussingen“ zu dürfen, genügend Platz auf der Bühne zu haben und keine zu schweren Noten halten zu müssen, entsprechen also einem guten Gespür für einen gesunden Umgang mit den eigenen sängerischen Ressourcen. Auch der Wunsch, sich immer wieder setzen zu können, ist kein Zeichen von Bequemlichkeit. All das ist eine funktionale Notwendigkeit, die der Musik, den Ausführenden und den Zuhörenden dient.
WIE STEHT MAN BEIM SINGEN?
Um gesunde, schöne und farbenreiche Klänge zu erzeugen, ist eine gute Balance von Stabilität und Flexibilität im Körper nötig. Denn die Atemmuskeln sind mit Ausnahme des Zwerchfells alle auch Körperaufrichtungsmuskeln. Wenn sie das „Instrument“ Körper in Form halten, kann die Tonerzeugung ungestört erfolgen.
Die Füße sollen parallel, eher leicht nach außen gedreht sein und senkrecht unter den Hüftgelenken stehen, etwa einen Fußbreit auseinander, also näher zusammen als mit „hüftbreit“ üblicherweise assoziiert wird. Das ist wichtig für die Statik. Die Knie sind gestreckt, aber die Kniescheiben entspannt.
Das untere Becken ist leicht nach vorne gekippt, die Leistenmuskulatur wird dabei gedehnt, aber die untersten Zentimeter der Bauchmuskeln werden durch die mäßige Kontraktion des Beckenbodens etwas angespannt. Gut wäre auf einer Skala von 1-10 eine Kontraktionsstärke bei etwa 3.
Der Oberbauch ist in die Länge und Breite gedehnt durch die Rippenhebung für die Einatmung und aus demselben Grund im Bereich des Sonnengeflechts leicht nach innen gezogen.
Die Rippen sind seitlich erweitert, und dadurch sind die darauf aufliegenden Schulterblätter nach außen gedreht. Das bedeutet, dass die äußeren Spitzen der Schulterblätter etwas nach oben steigen. Wird das verhindert, um die Schultern nicht zu heben, ist eine ausreichende Einatmung nicht möglich. Wenn Noten in den Händen gehalten werden, sollte genügende Platz vorhanden sein, um die Ellbogen rechts und links möglichst weit vom Körper abzuheben. Das unterstützt die Rippenentfächerung. Der Hals ist lang und gedehnt, die obere Krümmung zeigt etwas nach hinten, wie beim „Blick in den zweiten Rang“. Die Kau- und Mimikmuskulatur ist entspannt oder gedehnt.
Auf all das kann beim Singen im Sitzen auch geachtet werden. Einiges, z.B. die Beckenkippung, ist im Sitzen sogar besser herstellbar. Anlehnen kann unterstützend auf die Atmung in den hinteren Teil der Lunge wirken, denn der Hauptteil der Lunge liegt im Rücken. Auch auf die Abflachung der unteren Wölbung der Wirbelsäule, das „Hohlkreuz“, wirkt sich Anlehnen günstig aus.
Es ist weder nötig noch zielführend, „an der Stuhlkante“ zu sitzen. Das verstärkt im Gegenteil die Hochatmung und den Überdruck.
ZU HOCH / ZU TIEF
Intonation entsteht am Grundton. Ohne Grundtonwahrnehmung kann Intonation nicht geregelt werden, da die Tonhöhenregelung, wie bei allen Saiteninstrumenten, nur am Grundton erfolgen kann.
Für das Verstehen von Sprache nutzt der Gehörsinn den zweiten, oberen Vokalformanten. Der erste, untere ist beim Sprechen nur ansatzweise ausgebildet. Dieser Umstand erschwert das Erkennen der tiefen Frequenzen im Klang für ungeübte Ohren erheblich. Beim gesungenen Ton ist aber der erste Vokalformant, der etwa am selben Ort entsteht wie der Grundton, ausschlaggebend für die Regelung der Intonation. Wird also der Versuch gemacht, nur über den zweiten Vokalformanten die Intonation zu regeln, über die Vokalfarbe, hat das eine Manipulation der Form des Vokaltrakts zur Folge. Das wirkt auf Dauer stimmschädigend, weil so die optimalen funktionalen Voraussetzungen für Phonation gestört werden. Vergleichbar ist diese Vorgehensweise mit dem „Stopfen“ von Blechblasinstrumenten: Man verformt den Resonator, aber die erzeugte Frequenz bleibt dieselbe, weil sie ja an der Klangquelle erzeugt wird und nicht im Resonator.
Es ist sogar so, dass durch den Versuch, die Intonation durch Erhöhung des Luftdrucks nach oben zu regulieren, wie es bei Blasinstrumenten üblich ist, mehr Muskelmasse der Stimmlippen in Schwingung versetzt wird und so die Intonation nach unten rutscht. Dadurch entsteht ein stimmschädigender und für alle Beteiligten frustrierender Teufelskreis: Durch den Versuch, höher zu singen, den Ton vermeintlich „höher zu schieben“, wird der Klang tiefer und lauter. Oder umgekehrt: Klingt der Ton zu hoch, wird mit Entspannung, also mit Verringerung des Luftdrucks und des Körpertonus gearbeitet. Dadurch reduziert sich die Einatmungstendenz, die den Vokaltrakt offen hält. Er verengt sich, und die Resonanz der stehenden Welle zurück auf die Stimmbänder und damit den Grundton wird unterbrochen. Das Klangergebnis wirkt zu hoch, denn es ist hell, scharf und ohne tiefe Frequenzen. Dieses Phänomen tritt vor Allem in der Sopranlage auf: Die Stimme klingt „körperlos“, isoliert und ähnelt, auch von der Klangerzeugung her, mehr einem Pfeifton ohne Vibrato. Allgemein kann gesagt werden, dass der Eindruck von „zu tief“ oft bei zu wenig hoher Schwingung und der von „zu hoch“ bei zu wenig tiefer Schwingung im Klang entsteht.
Die Ausführenden singen also nicht zu hoch oder zu tief, sondern die Chorleitenden hören das Klangergebnis zu hoch oder zu tief. Die Singenden selbst hören sich richtig. Dieser Missstand ist nur durch eine Optimierung der Stimmtechnik in den Griff zu bekommen. Es ist also kontraproduktiv, mit Hilfe von Luftdruck die Intonation regulieren zu wollen, da das Mischungsverhältnis von Masse- und Dehnungsdominanz dadurch noch mehr gestört wird. So wird das Gegenteil von dem erreicht, was angestrebt wurde. Es ist also kontraproduktiv, mit Hilfe von Luftdruck die Intonation regulieren zu wollen, da das Mischungsverhältnis von Masse- und Dehnungsdominanz dadurch noch mehr gestört wird. So wird das Gegenteil von dem erreicht, was angestrebt wurde.
Ein Unterschied zwischen Frauen- bzw. Kinderstimmen und Männerstimmen ist noch interessant: Je tiefer der erzeugte Grundton ist, desto mehr Teiltöne können darüber im Resonator entstehen. Das bewirkt eine bessere Mischung des entstehenden Klanges. Stimmen, die vor allem in der ein- und zweigestrichenen Oktave singen, haben wegen der höheren Lage weniger Obertöne. Daraus ergeben sich bei ihnen mehr Probleme in der Beurteilung der Intonation des Grundtons als bei tieferen Stimmen. Schon kleine Ungenauigkeiten fallen dann mehr ins Gewicht. Das ist vermutlich einer der Gründe dafür, warum in Chören die Intonation der Sopranstimme häufig Thema ist, die der Bassstimme im Verhältnis dazu eher selten. Eine weitere Ursache für dieses Ungleichgewicht ist die Tatsache, dass hohe Frequenzen vom menschlichen Gehör aus evolutionären Gründen deutlicher wahrgenommen werden als tiefe, und eine dritte besteht in den akustischen Schwierigkeiten einer optimalen Vokalartikulation in hoher Lage.
ERSTE HILFE UND FORTBILDUNGSANGEBOTE
Nachdem Singen ein ganzkörperlicher Vorgang ist, der durch eine spezielle Nutzung der körperlichen Ressourcen und Gegebenheiten erzeugt wird, können die einzelnen Bereiche aber auch im alltäglichen Leben erkannt und trainiert werden. Das kann erfolgen durch Selbstbeobachtung und Selbstwahrnehmung bei allen reflektorischen Handlungen. Es gibt einatmungsdominant und ausatmungsdominant ablaufende Muskelaktionen, anders ausgedrückt "hin zu..." oder "weg von...": Ein gutes Beispiel ist die Atemtendenz beim Schieben (Trizeps) und genüsslichen Räkeln (ebenfalls Trizeps): Beide Bewegungen sind von der Richtung her gleich, aber mit einer anderen Atempräferenz verschaltet. Beim Schieben wird die Ausatmung aktiviert, ebenso der Stimmlippenschluss durch Überdruck und eine Verengung des Rumpfes, beim Räkeln die Einatmung, der Stimmlippenschluss durch Sog und eine Erweiterung des Rumpfes.
Ähnliche Beobachtungen kann man machen beim Kauen bzw. Schlucken versus Trinken bzw. Schlucken, Husten versus Niesen und Pressen versus Würgen. Schluckauf und Gähnen sind beide einatmungsdominant, aber durch ihren jeweiligen Zweck nicht eins zu eins auf das Singen übertragbar.
Auch Emotionen lösen entweder den Einatmungs- oder den Ausatmungsreiz aus: Freude, Erstaunen, Wohlgefühl lässt uns ein- bzw. aufatmen, ("oh!", ah!"), die Stimmritze öffnet sich. Bei Angst, Zorn und Ekel atmen wir aus und verschließen uns, ("iiih, eklig...!"), verengen die Stimmritze. Bei Kummer sinkt der Körpertonus und die Atmung flacht sich ab oder stockt fast.
Es ist also möglich, die aufrichtende, tonisierende und öffnende Muskulatur gezielt wahrzunehmen und damit auch zu trainieren: Strecken oder Stretching kann im Räkelmodus mit Wohlgefühl und Einatmungstendenz ausgeführt werden, statt im Schiebemodus. Beim Aufrichten aus der Hocke, Treppensteigen und Bergsteigen und sogar beim Gehen kann bewusst der Schub aus den Waden genutzt werden. Diese Muskulatur besitzt nur der Mensch. Ohne sie wäre der aufrechte Stand und Gang nicht möglich. Auch das kann als Räkeln wahrgenommen werden statt als Schieben.
Es gibt auch besonders geeignete Sportarten, die die sängerische Muskulatur stärken: Das sind vor allem Klettern, Klimmzüge, Hanteltraining, Kniebeugen, Schnelles Gehen, Bergsteigen, Reiten, Radfahren und ganz besonders Schwimmen. Aufgrund der Tatsache, dass diese Bewegungsform vermutlich maßgeblich mit beteiligt war an der Entwicklung der Gesangsfunktion ist sie auch besonders förderlich für ein entsprechendes ganzkörperliches Training. Speziell Brustschwimmen eignet sich durch das kräftige Abstoßen mit den Beinen im Wechsel mit dem Heranziehen der Hände zum Oberkörper gegen den Widerstand des Wassers ganz hervorragend dafür: Das stoßweise, vom Wasserdruck unterstützte Ausatmen gleichzeitig mit der Beinarbeit und die schnelle, kraftvolle Einatmung in den sich krümmenden Rücken während des Zugs mit den Armen verhelfen zu einem äußerst effizienten Training der Atemmuskeln und fördert zudem deren Elastizität. Ungeeignet als Sängersport sind dagegen Situps, denn dadurch werden die schrägen Bauchmuskeln trainiert, die primären Ausatmungsmuskeln. Auch Gewichtheben über die Schulterebene hinaus ist kontraproduktiv, denn es ist nur im Überdruckmodus möglich.
Zu wissen, welche sängerischen Konzepte funktional sinnvoll sowie anatomisch, akustisch und neuronal begründbar sind und welche Kompensationen oder Vermeidungsstrategien sind, ist ein wichtiger Wegweiser. Um die eigenen Gewohnheiten von der funktionalen Warte aus einordnen und entsprechende Wege und Teilziele verantwortungsvoll wählen zu können, ist es notwendig, die zielführenden Konzepte von denen unterscheiden zu können, die in die Irre leiten. Dieses theoretische Wissen ersetzt aber in keiner Weise die praktische intensive Beschäftigung mit dem eigenen Körper und den eigenen Gewohnheiten und Glaubenssätzen. Da sich niemand von außen beobachten kann, da ein lernender Mensch zwar ein Gespür für gangbare Wege und gesunden Umgang mit der eigenen psychosomatischen Konstitution hat, aber weder eigene Erfahrungswerte im Hinblick auf eine realistische Zielsetzung und potentielle Möglichkeiten, die er selbst bisher nicht erlebt hat, noch Kenntnis von unbewussten Prägungen, Haltungen, Gewohnheiten, Strategien und Traumata, ist es ihm nicht möglich, eine reale Vision von dem Weg zu entwickeln, der ihn dorthin führen kann. Dazu kommt, dass die täglich ausgeübte Sprachgewohnheit mit der sängerischen Artikulation nur sehr eingeschränkt kompatibel ist, und bestimmte artikulatorische Bewegungsabläufe ganz neu erlernt werden müssen.
Um für sich selbst und den persönlichen Entwicklungsstand gezielte Körperübungen zum funktionalen Singen zu erhalten, ist es am besten, Unterricht bei einer funktional ausgebildeten Lehrkraft zu nehmen. Auf der Website der Rabineinstituts sind die Namen von zahlreichen professionell ausgebildeten Gesangslehrkräften zu finden, ebenso auf der Website von Susanne Eisch.
Für Informationen zur Umsetzung des funktionalen Ansatzes und grundsätzliche Übungen, sowohl als effektive Vorbereitung für Einzelunterricht bzw. ergänzend als Trainingssequenzen als auch für Chorleitende zur chorischen Stimmbildung verweise ich auf die ausführlich erklärten Stimmbildungseinheiten im Potential Oriented Vocal Training (POVT) von Susanne Eisch:
https://www.susanne-eisch.de/home-de/singen-lernen
und auf die Website von Hilkea Knies:
Die Beschreibungen von ein paar sehr effektiven und zielführenden Körperübungen aus dem Grundlagenkurs der POVT-Seite möchte ich hier gerne wiedergeben:
1 Stimme als Instrument
Wir beginnen mit einem ersten Überblick über unser stimmliches Instrument. Von Kopf bis Fuß erfahren wir die Zusammenhänge zwischen unserem Körper und unserem Singen und erleben, wie wir durch einfache Übungen für mehr Klang, Leichtigkeit und Stimmgenuss sorgen können.
2 Einfach erweitert – Armhebung
Wir massieren sanft und diagonal unseren schrägen Bauchmuskel und erleben, wie wir so eine mühelose und widerstandslose Brustkorberweiterung fördern und Einatmung erleichtern können. Wir werden uns unserer schrägen Bauchmuskeln bewusst und vertiefen unsere Wahrnehmung für einen vollständigen Einatmungsablauf.
3 Hoch das Bein
Durch zentrale Funktionsketten ist unsere Einatmung mit unserem Oberschenkel verbunden. In dieser Einheit erleben wir, wie wir durch das Anheben des Beines unsere Atmung positiv beeinflussen und für einen deutlichen Klangzuwachs innerhalb unserer Stimme sorgen können.
4 Geneigt – geatmet
In dieser Übung flexiblisieren wir zentrale Muskelgruppen im Bereich des Nackens, Schultergürtels und der Bauchmuskulatur und sorgen so für eine differenzierte Beweglichkeit unserer Atmungsmukulatur. Die Einatmungsaktivität wird größer und müheloser und unsere Stimme reagiert darauf mit mehr Volumen und Klang.
5 Gebeugt – geatmet
Zentrale Teile unserer Einatmungsmuskulatur liegen auf unserer Körperrückseite. Gleichzeitig sind wichtige Teile unserer Körperaufrichtungsmuskulatur auch dafür verantwortlich, dass wir effizient und vollständig einatmen können. Wir erleben das differenzierte Zusammenspiel zwischen Aufrichtung und Einatmung genießen die positiven Auswirkungen auf unser Singen.
6 Sanft zum Raum – Kieferöffnung
Wie wir den Kiefer für die Einatmung öffnen, beeinflusst grundlegend die Gestaltung unserer oberen Luftwege. Diese sind wiederum die Voraussetzung für einen offen schwingenden Raum. Allzu häufig wird eine einfache Kieferöffnung durch starke Muskel(ver)spannungen verhindert. Mit sanften Massagen lösen wir hartnäckige Widerstände in unserer Kiefer- und Mimikmuskulatur. So kommen wir zu einer großen, schnellen Einatmung und erleben einen frei schwingenden Klang.
7 Artikulation klingt 1
Artikulation ist ein wichtiger Aspekt für unsere Textverständlichkeit beim Singen – aber auch für unseren Klang. Die Gestaltung unseres Klang-Raumes wird wesentlich von unserer Artikulationsbewegung beeinflusst. In dieser Einheit beschäftigen wir uns mit den Vokalen „a-o-u“ und erleben Lippenrundung als Weg zu einem vollständigen und runden Klangerlebnis.
8 Artikulation klingt 2
Wir erforschen weiter die Artikulationsbewegungen und erleben eine differenzierte Zungenbewegung bei den Vokalen „a“, „ä“, „e“ und „i“. So sind Klangverstärkung und Textverständlichkeit nicht länger ein Widerspruch.
9 Was schwingt wo?
Diese grundlegende Übung klärt die unterschiedlichen Schwingungsebenen in unserem sängerischen Instrument. Wir erleben, dass wir gleichzeitig die Schwingung der Stimmlippen und die Schwingungen in unserem Vokaltrakt wahrnehmen können. Und dass diese Schwingungswahrnehmungen uns zu einer vollständigen Klangverstärkung und differenzierten Artikulation leiten können.
SÄNGERISCHE REDEWENDUNGEN UND IHRE FUNKTIONALE ZUORDNUNG
ATMUNG/AUFRICHTUNG
Auf dem Atem -> Canto sul fiato
Auf dem Körper -> Aufrichtung
In den Bauch/Beckenboden atmen -> Atmung / Zwerchfell
Mit der Bauchmuskulatur stützen -> Bauchmuskulatur / Doppelventilfunktion
Nachächzen -> Mediakompression
Solar-Lunar -> Atmung
Stütze -> Doppelventilfunktion / Inalare la voce / Stimmlippen
Überstützen -> Inalare la voce
EINSATZ
Freier Ansatz -> Einsatz
Von oben - von unten -> Doppelventilfunktion
KLANGFARBEN
Dunkel / hell -> Chiaroscuro
Durchschlagskraft -> Mediakompression
Eng / gepresst -> Kehlkopfsenkung / Zunge
Gaumig -> Gaumen
Hauchig -> Mediakompression
Klangkern -> Mediakompression
Körperklang -> Register
Nasenresonanz -> Nase
Maske / Vordersitz -> Sitz
Metall -> Mediakompression
Rund / spitz / flach -> Mundöffnung / Kehlkopfsenkung / das Zunge
Weich / hart -> Doppelventilfunktion / Formanten
MIMIK
Bäckchen -> Bocca ridente
Breitspannung -> Bocca ridente
Freudiges Staunen -> Bocca ridente / Saugreflex
PHONATION
Den Ton halten -> Legato
Den Ton trinken -> Inalare la voce
Es singt -> Gesangsreflex
Glottisschlag -> Einsatz
Kopfigkeit / Kopfton -> Dehnungsfunktion
Nachächzen -> Einatmungstendenz
Schieben -> Doppelventilfunktion
Vorne singen -> Artikulation
REGISTER
Mittelstimme -> Register / Mezza voce
Randstimme -> Register
Schnarrregister / Strohbass -> Vocal Fry
Verstärktes/gestützes Falsett -> Doppelventilfunktion
Voix mixte -> Register
SPRACHBEHANDLUNG
Artikulation -> Artikulation
Offen Singen -> Mundöffnung / Zunge
Parlando -> Gesangsreflex / Konsonanten
Vokalausgleich -> Formant / Vokale
VOKALTRAKT
Abdunkeln -> Chiaroscuro / Rundung / Zunge
Ansatzrohr -> Vokaltrakt
Dämpfen -> Aperto ma cuperto / Cuperto
Decken -> Aperto ma cuperto / Uhr Cuperto
Gähnweite / Gähnstellung -> Mundöffnung
Hinter der Nase -> Schwingungswahrnehmung
In den Unterkiefer singen -> Mundöffnung
Knödel -> Zunge
Staunen -> Mundöffnung / Inalare la voce
Summen -> Kehlkopfsenkung / Mundöffnung
Verbrustet Singen -> Kehlkopfsenkung
ANDERE GESANGSTECHNIKEN IM FUNKTIONALEN BLICKWINKEL
ANDERE GESANGSTECHNIKEN IM LICHT DER FUNKTIONALEN ERKENNTNISSE
Atemtypenlehre (Terlusollogie):
Atmung, Doppelventilfunktion, Inalare la voce, Luftdruckregelung, Trachealzug
Complete Vocal Technique (CVT):
Appoggiare la voce, Doppelventilfunktion, Gesangsreflex, Kehlkopfsenkung, Mediakompression, Mundöffnung / Kieferöffnung, Saugreflex, Vibrato
Estill Voice Training (EVT):
Atmung, Doppelventilfunktion, Gesangsreflex, Inalare la voce, Luftdruckregelung, Mundöffnung / Kieferöffnung, Trachealzug
Gesangsmethode nach Christian Halseband:
Doppelventilfunktion, Gesangsreflex, Inalare la voce, Kehlkopfsenkung
Diagnostik und Pädagogik der Stimmbildung von Otto Iro:
Atmung, Appoggiare la voce, Doppelventilfunktion, Höhe, Luftdruckregelung, Masse, Mundöffnung / Kieferöffnung, Randschwingung, Register, Registerdivergenz, Rundung, Segment, Tiefe, Übergang, Vibrato
Schwedisch-italienische Gesangstechnik nach David L. Jones:
Doppelventilfunktion, Gesangsreflex, Inalare la voce, Kehlkopfsenkung
Laxvox:
Doppelventilventilfunktion, Gesangsreflex, Inalare la voce,
Mundöffnung / Kieferöffnung
Lichtenbergermethode (Gisela und Walter Rohmert):
Chiaroscuro, Einsatz, Formanten, Gesangsreflex, Inalare la voce, Kehlkopfsenkung, Klang, Ohr, Tonus, Vibrato, Wahrnehmung
Minimallufttheorie nach Paul Bruns:
Atmung, Inalare la voce
Methode nach Clara Schlaffhorst und Hedwig Andersen:
Doppelventilfunktion, Gesangsreflex, Inalare la voce, Kehlkopfsenkung, Konsonanten, Vokale, Zwerchfell
Singen und Bewegung nach Kurt Widmer:
Aufrichtung, Atmung, Bewegung, Doppelventilfunktion, Gesangsreflex,
Inalare la voce, Kehlkopfsenkung, Mundöffnung / Kieferöffnung, Luftdruckregelung, Trachealzug, Zunge, Zwerchfell
Sitztechnik nach Frederick Husler:
Aperto ma cuperto, Atmung, Chiaroscuro, Inalare la voce, Kehlkopfsenkung, Schwingung / Schwingungswahrnehmung, Sitz / Vordersitz, Vokale, Zwerchfell
Schule der Stimmenthüllung nach Valborg Werbeck-Svärdström:
Doppelventilfunktion, Gesangsreflex, Luftdruckregelung,
Mundöffnung / Kieferöffnung
Speech Level Singing (SLS):
Belting, Falsett, Konsonanten, Luftdruckregelung, Mischung,
Mundöffnung / Kieferöffnung, Register, Schwingung / Schwingungswahrnehmung, Trachealzug, Register
Staumethode nach George Armin:
Appoggiare la voce, Doppelventilfunktion, Inalare la voce, Luftdruckregelung, Trachealzug
Der wissende Sänger (Franziska Martienssen-Lohmann):
Appoggiare la voce, Formant, Nase, Kehlkopfsenkung, Konsonanten,
Randschwingung / Randstimme, Register, Sitz / Vordersitz, Sprachgewohnheit, Vibrato, Zunge, Zwerchfell

Gabriele Weinfurter
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